Die Flut an – vor allem schlecht gestalteten – Neubauten in Wien kritisiert Blogger Georg Scherer im Gastblog.
Wien wächst rasant. Überall wird gebaut, die Immobilienpreise explodieren, Hausabrisse nehmen dramatisch zu. Soll Wien langfristig lebenswert bleiben, sind einige Fragen ganz entscheidend: Ist die Sanierung von Altbauten nicht in Hinblick auf Ressourcen oft besser als ein Neubau? Wie lassen sich Häuser bauen, die auch noch in vielen Jahrzehnten funktional und attraktiv sind? Hat Schönheit in der Architektur noch irgendeine Relevanz?
Wien hat das Glück eines einzigartigen Altbaubestands. Bis in die späten 1930er wurde durchgängig eine sehr hohe gestalterische Qualität erreicht. Von dieser Qualität sind wir heute oft weit entfernt. Die Architektur der Gegenwart scheint sich nicht selten irgendwo zwischen überanstrengter Modernität, zwangsweiser Anpassung an Bauträger und Desinteresse an der gebauten Vergangenheit zu bewegen. Nicht immer und nicht überall, aber die Tendenz ist unverkennbar – besonders im freifinanzierten Wohnbau und besonders in den Bezirken außerhalb des Gürtels. Selbst Neubauten mit sehr teuren Wohnungen sind oft erstaunlich nüchtern gestaltet. Dieser Blogbeitrag soll zeigen, in welche Richtung sich die Wiener Architektur entwickelt.
Wohnhaus im Vogelhaus-Look
Simmering steht nicht unbedingt im Fokus der Österreichischen Architekturszene. Ob sich das mit der Fertigstellung der "Business Apartments" in der Gudrunstraße geändert hat? Hier, an der Grenze von 10. und 11. Bezirk, steht seit 2021 ein kurioses Gebäude. Das auffälligste Merkmal ist ein strenger Raster aus Erkern mit funktionslosen Dächern, dazwischen geschoben sind Balkone mit silbergrauen Gittern. Architektur wird hier zum Ulk, anstatt als Verantwortung gegenüber der Stadt aufgefasst zu werden.

Geplant wurde das Gebäude vom Architekturbüro BFA x KLK. Der vielleicht kargste Teil des Gebäudes ist jener, der am sichtbarsten ist: Auf der Seite zur Gudrunstraße beschränkt sich die Gestaltung in erster Linie auf nackte Mauerflächen. Dämpfend auf die Mietpreise scheint sich das aber nicht ausgewirkt zu haben, wie einer Presseaussendung von Gemeinderat Georg Prack (Grüne) zu entnehmen ist. Anfangs sei das Haus zudem teilweise leer gestanden.

Bullaugen statt Gründerzeithaus
Harmonisches Einfügen und die Rücksichtnahme auf die Umgebung zählen nicht zu den Vorlieben hiesiger Planer. Ein Klassiker unter jenen Neubauten, die mit haushohen Scheuklappen ins Stadtbild gesetzt wurden, ist das Mooons am Wiedner Gürtel. Das Hotel hat aufgrund seiner touristisch relevanten Lage zwischen Hauptbahnhof und Schloss Belvedere einige Bekanntheit erlangt. Was vorbeischlendernde Urlauber nicht wissen: Hier hatte sich zuvor ein 1877 errichtetes Gründerzeithaus befunden. Dieses gehörte der Wibeba – einem Bauunternehmen, das noch bis in die 1990er im Besitz der Stadt Wien war und heute Teil des Konzerns Porr ist. "Den Altbau am Wiedner Gürtel verkaufte die Wibeba im Jahr 2013. Das von einem Wiener Investor entwickelte Hotel wurde 2021 an einen deutschen Investor um einen zweistelligen Millionenbetrag weiterverkauft.

Die runden Fenster sind Fertigteile aus Beton, die von einer dunklen Glasfassade verdeckt sind. Eine Gestaltung, die auf viel Effekt und wenig Variation getrimmt ist. Das Hotel steht in einem historisch schützenswerten Baugebiet. Um Ortsbild-Schutzzonen hatte sich die Politik jahrzehntelang nicht gekümmert, obwohl durch den Bau des Hauptbahnhofs schon frühzeitig klar war, dass die Liegenschaften in der Umgebung enormem wirtschaftlichen Druck ausgesetzt sein würden. Abrisse, unattraktive Dachausbauten und eine zerstörte historische Kuppel waren die Folge. Bis heute hat die Stadtregierung die Bebauungspläne nicht angepasst.

Hotelblock am Donaukanal
Das Schützenhaus am Donaukanal ist eines der bekanntesten Werke von Otto Wagner. Im Rücken der Jugendstilikone wurde 2008 ein intaktes Gründerzeithaus abgerissen. Danach diente das Grundstück als Parkplatz, seit 2021 steht hier ein Hotel. Das Gebäude zeichnet sich durch verspiegelte Fenster und einen Dachaufbau in Gewächshaus-Optik aus. Auf die Umgebung geht die Architektur in keiner Weise ein. Die Umgebung ist dabei nicht eine beliebige Seitengasse, sondern ein prominenter Bauplatz gegenüber dem Franz-Josefs-Kai, nahe der Ringstraße.

Ursprünglich hatte das Grazer Architekturbüro Innocad ein Gebäude mit aufwendiger Steinfassade entworfen. Das hätte einen interessanten Struktureffekt ergeben. Gebaut wurde das aber nicht. Auftraggeber des Neubaus ist ein Wiener Immobilieninvestor. Dass ein Investor nicht unbedingt die attraktivste Planung favorisiert, mag aus wirtschaftlicher Sicht verständlich sein. Weniger verständlich ist die Abwesenheit qualitätssichernder Maßnahmen vonseiten der Stadtregierung.
Hochhauscontainer in der Seestadt Aspern
In der Seestadt hat sich jemand etwas getraut. Das Lakeside ist ein 14-geschoßiges Hochhaus, entworfen vom renommierten Architekturbüro Querkraft. Das Gebäude ist hochgradig durchdacht und setzt sich mit seiner Form eigentlich weit vom Wiener Neubau-Durchschnitt ab. Umso mehr verwundern die Balkone und vor allem die Materialwahl.
Die wirre Anordnung und Größe der Balkone geben dem Gebäude ein unruhiges Erscheinungsbild. Die transdanubischen Windverhältnisse mögen es mit sich bringen, dass sich die teils weit auskragenden Balkone vielleicht nicht immer sonderlich angenehm nutzen lassen. Weit schwerer wiegen aber ohnedies die Fassadenmaterialen, denn zum Einsatz kamen Sichtbeton und Blech. In Kombination mit den fast ausschließlich grauen Farben wirkt das kalt und wenig geeignet für ein Wohnhaus. Hat auch hier der Bauherr den ursprünglichen Plan abgeändert? Oder war der Effekt der "technischen Nacktheit" von Anfang an gewünscht?

Das Spiel mit technischer Ästhetik ist an sich noch gar kein Problem. Technoide Gestaltung findet sich auch schon bei Otto Wagner (zum Beispiel bei der Stadtbahn). Im Fall des Asperner Hochhauses entsteht aber eher der Eindruck eines in die Vertikale strebenden Baucontainers. Interessant ist die Lage: Zwar ist das Gebäude einerseits nahe am See – aber es liegt auch an einer von der Stadt Wien produzierten Asphaltwüste. Der öffentliche Raum im Zentrum der Seestadt ist so misslungen, dass nur zwei Jahre nach der Fertigstellung wieder nachgebessert werden muss.
Metallhaus im Gründerzeitviertel
Das nächste Foto ist kein Rendering, sondern echt und in Ottakring. Der Bezirk, der in den letzten Jahren durch etliche Abrisse (zum Beispiel in der Lindauergasse und Heigerleinstraße) von sich reden gemacht hat, ist seit 2018 um ein Gasthaus ärmer und ein futuristisches Wohnhaus reicher. Der Bauherr in der Albrechtskreithgasse warb mit Anlegerwohnungen. Nicht untypisch für die Immobilienentwicklung in den Gründerzeitvierteln, die dem wirtschaftlichen Druck aufgrund fehlender Schutzzonen völlig ausgeliefert sind.
Das von den burgenländischen ad2-Architekten entworfene Gebäude versucht erst gar nicht, sich in das gewachsene Umfeld einzufügen, und erinnert vielleicht eher an ein Lager oder die Rückseite einer Fabrik. Es ging wohl vor allem um den schnellen Effekt, der sich vermutlich verkaufsfördernd auswirken soll. Die Frage ist: Widerspricht diese Architektur nicht sogar dem Wiener Baurecht? Dort heißt es nämlich, dass das "Äußere der Bauwerke die einheitliche Gestaltung des örtlichen Stadtbildes" nicht stören darf.
Augen zu und bauen
Die oben vorgestellten Gebäude haben eines gemein: Bei allen ist immerhin ein gestalterischer Anspruch zu erkennen. Diese Gebäude stechen hervor, weil sie krampfhaft anders sein wollen. Dabei geht es auch um die Selbstvermarktung von Architekturbüros. Inwiefern die Bauträger einschränkend auf die Kreativität der Planer eingewirkt haben, lässt sich von außen nie eindeutig sagen.
Die große Masse an Neubauten bewegt sich jedoch jenseits jeder Innovation und Exzentrik. Was sich häuft, ist eine augenfällige Mittelmäßigkeit, besonders in den Außenbezirken. Grelle Farben und eintöniges Grau wechseln sich ab. Hochwertige Fassadenmaterialien wie Holz, Stein oder Sichtziegeln sucht man vergebens. Rekurse auf historische Stile sind ohnehin inexistent, Erdgeschoße mit Platz für Geschäfte und Lokale fehlen meist ebenso.
Hier ein paar Beispiele:
Ein erst 2018 fertiggestelltes Wohnhaus im 21. Bezirk veranschaulicht, wohin sich Wien entwickelt. Die Aufmerksamkeit darf der Erdgeschoßzone und der Farbwahl gelten:
Dass sich ein Neubau in keiner Weise am Altbestand orientiert, ist hierzulande Normalität. Dabei haben es alle Entwürfe durch die Begutachtung der Behörden geschafft – wie auch dieses Haus im 2. Bezirk:
Das Wiener Baurecht kennt keine brauchbaren gestalterischen Vorgaben und Qualitätskriterien. Ortsbildschutz und harmonischer Weiterbau sind keine Kategorien, die Behörden und Politik interessieren. Deutlich wird das auch bei dem Gebäude auf dem nächsten Foto – erbaut nach dem Abriss eines Wohnhauses im Stil des Historismus:
Bei diesem Haus in der Brünner Straße ist die maximale Ausnutzung des Bauplatzes erkennbar:
Viele Neubauten werden von Investoren für Anleger erbaut. Wer diese Wohnungen kauft, wohnt selbst nicht darin, sondern vermietet. Solche Modelle sind steuerlich begünstigt. Ein Beispiel aus Meidling, das ästhetisch vielleicht für die späten 1970er-Jahre noch durchginge, aber tatsächlich keine zehn Jahre alt ist:
Auch das Gebäude auf dem Foto unten ist ein Anleger-Bau:
Einige Neubauten wirken Jahrzehnte älter, als sie tatsächlich sind. So wie dieses Gebäude, das nach dem Abriss einer historischen Fabrik in Favoriten errichtet wurde:
Der bescheidene Anspruch, den manche Bauherren an ihre Entwürfe legen, ist keine rezente Entwicklung. Schon bei diesem 2006 errichteten Hotel hinter dem Hauptbahnhof wird das deutlich:
Auch exklusivere Neubauprojekte sind zuweilen erstaunlich schlicht – wie der Wohnblock, der nach dem Abriss der historischen Bösendorfer-Klavierfabrik (erbaut um 1720) errichtet worden ist:
Die Entwicklung in Wien geht in Richtung langer und monotoner Gebäude. Das manifestiert sich auch in zentraleren Lagen wie hier hinter dem Hauptbahnhof:
Die Tendenz zu langen Gebäuden ohne kleinteilige Gliederung entfaltet sich auch in der Nähe von Schönbrunn. Bei diesem Projekt bei den Kometgründen sind graue Streifen und kleine Fenster die vordringlichen Merkmale:
Warum schaut das so aus?
Die hier vorgestellten Beispiele sind beliebig erweiterbar. Das heißt aber keineswegs, dass alle Neubauten so aussehen. Zu jeder Zeit sind herausragende Bauwerke entstanden, auch in den letzten Jahren. Doch es geht um die schiere Menge. Besonders abseits von touristischen Hotspots und teuren Gegenden greift ein eigenartiges Desinteresse um sich. Es scheint in vielen Fällen vor allem eine Formel zu gelten: mit minimaler Gestaltung maximale Flächen bauen.
Schlichte Schuldzuweisungen an Architekten sind zwar beliebt, helfen in der Sache aber nur bedingt weiter. Architekturbüros sind immer von Auftraggebern abhängig und müssen sich anpassen, wenn sie wirtschaftlich überleben wollten. Der geringe Anspruch, den manche Bauträger an ihre "Produkte" haben, führt auch zu einer auf den ersten Blick unlogischen Konsequenz: Geförderter Wohnbau bringt zuweilen bessere Resultate hervor als freifinanzierter.
Stadt Wien als Preistreiber
Auch die hohen Bau- und Grundstückspreise spielen da mit hinein, worunter besonders die Genossenschaften leiden. Die Stadtregierung treibt die Baukosten in die Höhe, indem sie auf unzeitgemäßen Vorschriften beharrt: Anders als in vielen deutschen Städten muss jeder Bauträger in Wien Garagen bauen. Unabhängig von der tatsächlichen Nachfrage. Die Garagenpflicht geht direkt auf die "Reichsgaragenordnung" aus dem Jahr 1939 zurück.
Gesetze für attraktive Fassaden und nutzungsoffene Erdgeschoße gibt es hingegen keine. Auch eine Leerstandsabgabe und ein "Spekulationsverbot" fehlen; ebenso eine Verpflichtung, einen Bauplatz ohne Verzug zu bebauen, anstatt zwecks Gewinnsteigerung jahrelang leer zu lassen. Historische Gebäude wiederum sind vor Abrissen meist völlig ungeschützt. All das legt die politischen Prioritäten offen. Vom alten Roten Wien der 1920er sind wir nicht nur zeitlich weit entfernt.
Und noch zum Thema Hotels: Mit selbigen lässt sich weit mehr verdienen als mit Wohnungen. Nicht umsonst entstehen derzeit überall neue Touristenunterkünfte. Dabei dürfte der Hotelmarkt ohnehin gesättigt sein. Ein Gesetz, das den Bau von neuen Hotels an genau festgelegte Kriterien knüpft, gibt es nicht. Dazu kommt noch die Vermietung von privaten Wohnungen an Touristen, die in weiten Teilen Wiens ohne Einschränkung erlaubt ist.
Baukultur in Wien inexistent
Angesichts der enormen Bautätigkeit der letzten Jahre gewinnt die Schieflage in der Baukultur hochgradig an Brisanz. Denn die Gebäude von heute – und damit auch alle weniger gelungenen – werden nicht einfach verschwinden, sondern das Wien der Zukunft entscheidend prägen. Heute haben wir die kunstvollen Gebäude aus Historismus und Jugendstil und die formschönen Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit vor uns. Wie wird man in einigen Jahrzehnten über die Architektur unserer Zeit denken?
Die Stadtpolitik hat in den letzten Jahrzehnten keinerlei Interesse an nachhaltig attraktiver Architektur gezeigt. Das hat auch mit der Macht von Baufirmen und Investoren zu tun, deren Einfluss auf die Regierung nicht zu unterschätzen sein dürfte. Es scheint das Ziel zu sein, möglichst schnell und ohne Hindernisse bauen zu lassen. Genau das spiegelt sich in den Gesetzen wider. Es gibt keine brauchbaren Gestaltungsvorschriften und keine transparenten Maßnahmen zur Qualitätssicherung – etwa einen unabhängigen Gestaltungsbeirat. In der Praxis ist gleichsam alles erlaubt, und das heißt dann auch: die Freiheit, das Niveau beliebig weit zu senken. Dabei geht es nicht bloß um Ästhetik, sondern auch um Funktionalität (was kann ein Gebäude?), Flexibilität (lässt es sich vielseitig nutzen?), Erdgeschoßzonen (kahle Mauer oder Geschäfte?) und Dauerhaftigkeit (Schonung von Ressourcen durch lange Lebensdauer). Der letzte Punkt ist entscheidend: Ist ein Gebäude nicht nur gut nutzbar, sondern auch schön anzusehen, wird es in Zukunft wohl am ehesten saniert und möglichst lange stehen. Werden nun all diese Aspekte wirklich ernsthaft berücksichtigt, sind die meisten Neubauten in Wien eigentlich nicht viel mehr als ein schlechter Witz. (Georg Scherer, 17.4.2022)