Bild nicht mehr verfügbar.

"Das letzte Abendmahl" von Jacopo Tintoretto, betrachtet von einer Frau im Puschkin-Museum in Moskau im Jahr 2017 im Rahmen einer Ausstellung über die Renaissance in Venedig.

Foto: AP / Pavel Golovkin

Während der venezianische Maler Giovanni Bellini die Kunstgeschichte mit einer endlosen Serie von Madonnen mit Kind bereichert hat (Jesulein mit Birne in der Hand; Jesulein mit Schwalbe in der Hand; Jesulein, die Madonna am Hals kitzelnd; Jesulein schlafend ...), bemühte sich sein etwas später aktiver Künstlerkollege Jacopo Tintoretto immer wieder um die ultimative Darstellung des Letzten Abendmahls: mal den Tisch schräg von links, dann wieder schräg von rechts; mal düster, dann wieder mit starker Lichtquelle, mit vielfältigen Antworten auf die Frage: Wohin mit Judas? ...

Seine wohl gewagteste Version der Abendmahlszene befindet sich in einer Seitenkapelle der venezianischen Kirche San Trovaso. Zu offensichtlich fortgeschrittener Stunde herrscht sowohl auf dem Tisch wie drumherum Unordnung; ein Sessel liegt umgestürzt auf dem Boden, und die Körpersprache der Apostel erweckt den Eindruck, dass sie nicht mehr ganz nüchtern sind.

Tintoretto im Schlafzimmer

Nicht nur, dass mich dieses Bild wegen seines blasphemischen Humors fasziniert; wenn ich in Venedig bin, schlafe ich praktisch neben dem Abendmahlstisch. Eine befreundete Künstlerin hat hinter dem Querschiff der Kirche einen für Venedig unglaublich großen Garten mit Palmen, marmornen Statuen und einem Gartenhäuschen, in dem ich absteigen darf, allerdings nicht allein, sondern gemeinsam mit dem Großteil der Ohrenschliefer, Spinnen und Tausendfüßler Venedigs. Zugegeben, die Nächte sind etwas kribbelig, aber wo hat man schon einen Tintoretto (fast) als Schlafzimmerbild?

Nachdem ich wieder einmal eine Handvoll Fünfzig-Cent-Münzen in die Beleuchtung der Kapelle investiert und darüber sinniert hatte, wie es Tintoretto gelungen war, die künstlerische Freiheit, die er sich bei diesem Bild genommen hatte, vor der Verdammung durch die Inquisition zu bewahren, begab ich mich in die kleine Vinothek, die, nur durch einen Kanal getrennt, der Kirche gegenüberliegt.

Mysteriöse Frage

Ich besorgte mir ein Glas Wein und einige Cicchetti, köstliche kleine belegte Brötchen, für die das Al Bottegon berühmt ist. Es war früher Nachmittag und das Lokal so gut wie leer. Irgendwann bemerkte ich, dass zwei an der Theke stehende hübsche junge Frauen immer wieder zu mir her überschauten, kicherten und mit dem Kellner flüsterten.

Etwas irritiert wischte ich mir mit der Serviette etwaige Baccalà-Reste aus dem Bart und checkte unauffällig, ob der Zipp meiner Jeans geschlossen war. Schließlich kam eine der beiden zu mir herüber und fragte mich "Ex cuse me, aren’t you a dentist from Budapest?"

Ich? Ein Zahnarzt? Aus Budapest? Die mysteriöse Frage löste bei mir zwei Assoziationen aus: erstens dass Henry Higgins, die Hauptfigur im Musical My Fair Lady, einen ungarischen Sprachforscher wohl nur um der Alliteration willen "the hairy hound from Budapest" nennt, und zweitens die Szene in Woody Allens Film A Midsummernight Sex Comedy, in der ein älterer Lebemann eine junge Frau fragt: "Did you ever have sex with an older man?" Sie antwortet verlegen: "Yes." Er: "Was he a genius?" Worauf sie lispelt: "No, he was a dentist." Als ich mit Bedauern verneinte, kehrte sie nach einer Entschuldigung zur Freundin zurück, blieb jedoch auf halbem Wege plötzlich stehen, rief "Vienna!", kam zu mir zurück und umarmte mich.

Nicht mehr nüchterne Apostel

Wie sich herausstellte, waren die beiden jungen Frauen Kunststudentinnen, die eine Ungarin, die andere Engländerin, die an der nahegelegenen Guggenheim Collection ein Praktikum absolvierten. Die Ungarin hatte ein Semester in Wien studiert und ein paarmal eine befreundete Lehramtsstudentin in eine meiner Vorlesungen im Audimax begleitet.

Die beiden Damen baten mich zu sich an die Theke. Der Kellner entfernte wortlos unsere Weingläser und servierte "auf das Haus" einen Wein, der des tatsächlichen Letzten Abendmahls würdig gewesen wäre. Wir kamen auf das turbulente Tintoretto-Bild in der gegenüberliegenden Kirche zu sprechen sowie auf den Umstand, dass sich in der Wiener Schatzkammer eine Reliquie mit einem Stück des Tischtuchs vom Letzten Abendmahl befindet.

Die Engländerin gab sich entsetzt. War es denn nicht eine Sünde, vom Tischtuch "de mensale Domini" ein Stück abzuschneiden, noch dazu, wo man auf Domenico Ghirlandaios Abendmahl-Fresco im Refektorium des Florentiner Klosters Ognisanti deutlich sehen kann, dass es sich um ein ganz edles, fein besticktes Tuch gehandelt hat? Ich warf ein, dass die Beschaffenheit des Tuchfragments in der Wiener Schatzkammer eher mit dem verwuzelten Tischtuch Tintorettos von nebenan als mit dem makellosen Gewebe Ghirlandaios übereinstimmte.

Theologisch-gastronomisches Problem

Da der feine Wein (ein Restbestand der Hochzeit zu Kana?) seine Wirkung zu zeigen begann, ließen wir die Fragen nach dem "wahren" Tischtuch und dem Zeitpunkt seiner frevelhaften Verstümmelung offen und begnügten uns mit der Feststellung, dass die Apostel Tintorettos wenigstens das Glück hatten, genug zu essen und offensichtlich mehr als genug zu trinken zu haben.

Auf einem der bunten Glasfenster im Refektorium der Pariser Kirche Sainte-Geneviève sitzen Jesus und die Apostel nämlich beim Letzten Abendmahl an einem Tisch, auf dem das auf einem großen Teller angerichtete Festessen die Größe und Form eines kleinen gebratenen Eichhörnchens hat.

Wie sollten dreizehn erwachsene Männer davon satt werden? Auch dieses kniffelige theologisch-gastronomische Problem blieb ungelöst.

Für den nächsten Tag, einen Sonntag, boten mir meine neuen Freundinnen an, mich in eine exklusive Vernissage in der Guggenheim Collection hineinzuschmuggeln. Als ich mit dem Hinweis auf meine legere Kleidung zögerte, meinten sie, das mache gar nichts, es würden sicher Künstlerinnen und Künstler in ausgeflippten Outfits anwesend sein. Ich zog mein Lieblings-T-Shirt an, das auf der Brust den schönen Spruch von Groucho Marx trägt: "Outside of a dog a book is man’s best friend. Inside of a dog it is too dark to read."

Und in der Tat, in der bunten Schickeria fiel ich überhaupt nicht auf. Die Vernissage erwies sich, sowohl was die Bilder als auch das Event selbst betraf, als grandiose Inszenierung. Abendmahlmäßig war sie jedoch eine Enttäuschung: Es gab jede Menge Champagner, aber nichts zu essen.

Dabei wäre auf der Terrasse des Guggenheim zum Canal Grande Platz genug für einen schön gedeckten langen Tisch gewesen. (Karl Heinz Gruber, ALBUM, 17.4.2022)