Der Artikel stammt aus dem neuen RONDO exklusiv, das am 29.4.2022 erscheint.

Auf dem Cover ist eine Arbeit des Künstlers Carlos Vergara zu sehen. Er beschäftigt sich mit Identitätsfragen. Dabei setzt er das Medium Fotografie in entfremdeter Form ein. Für die Serie "Invisibleporn" übermalt er etwa pornografische Szenen. Es bleiben nur Extremitäten sichtbar, die sexuelle Konnotation ist nur mehr zu erahnen.

Foto: Collage: Carlos Vergara

Monatelang haben einem die netten Leute vom STANDARD eine Sexkolumne angeboten. Monatelang lehnte man selbstverständlich dankend ab. Wer will schon als Schreiberin fürs Grobe enden, als Betrachterin des Vulgären, Expliziten?

Aber dann änderten meine klugen Gesprächspartner in der Redaktion ihre Strategie: "Schreib einfach über das Leben." Ich hatte also eine gewisse Freiheit. Und plötzlich war es wie in diesen Firmen, die ihren Mitarbeitern das Recht auf unbegrenzten Urlaub in den Vertrag schreiben: Jetzt, wo sich keiner mehr rechtfertigen muss, engagieren sich alle mehr. Und jetzt, wo mich keiner zwingt, über das Beziehungs- und Geschlechtsleben der Menschen zu schreiben, tue ich es doch, aus freien Stücken und die ganze Zeit.

Schöne Schieflagen

Schnell stellte sich heraus, dass sich kein Thema besser mit meinem privaten Alltag verbinden ließ. Wer mit Freunden und Bekannten ohnehin bevorzugt über die Liebe nachdenkt, Beziehungen und Nichtbeziehungen bespricht, Strategien der Annäherung, Verführung, Optimierung und des Scheiterns – der kann das Praktische mit dem Nützlichen verbinden. In meinem Fall trat so etwas wie der Idealfall ein: Wiederverwertung als Beruf.

Als Reaktion kommen seither immer wieder charmante E-Mails. Ja, sogar Briefe per Post, so richtig mit Briefmarke. Darunter Angebote wie: "Liebe Frau Angerer, auch ich habe mit einem Gipsbein bereits sehr gute Erfahrungen in der Liebe gemacht. Gerne würde ich Ihnen bei einem Kaffee oder Glas Sekt mehr davon berichten." – Oder: "Ich bin verliebt. Leider schläft seine lästige Katze bei uns im Bett. Kennen Sie das Problem?"

Gleich von Beginn an hätte also alles so schön und gemütlich sein können. Endlich machte auch das Scheitern eigener Beziehungen Sinn! Wenn – ja, wenn man den klassischen Anfängerfehler vermieden hätte ...

Großes Gladiatorenkino

Dieser lautet: sobald die ersten Texte online sind, mitten in der Nacht, müde und schutzlos, mit dem Laptop im Bett zu sitzen und sich alle Leserkommentare reinzuziehen. Erst zwanzig, dann fünfzig und irgendwann hunderte Zuschriften. Nicht bloß überfliegen. Nein, aufmerksam lesen.

Immer wieder gibt es konstruktive Hinweise, etwa von Ärzten und Psychotherapeutinnen: "Das Borderlinesyndrom ist eine ernstzunehmende Erkrankung. Bitte nicht mit herkömmlichen Narzissten und Narzisstinnen verwechseln." – Aber auch Userreaktionen wie: "Sie können nichts, Frau Angerer!" "Das sind Texte auf Fix-und-Foxi-Niveau." – Dazwischen leuchten freundliche Meldungen: "Ich sehe die Autorin manchmal mit dem Rad durch die Stadt fahren." "Ich freue mich schon auf Ihr nächstes Thema". – Und natürlich gibt es auch die erbosten Zurufe. Da trägt man besser keinen Pyjama. Da braucht man Helm und Knieschützer.

Collage: Carlos Vergara

Betroffen rufe ich nach dieser ersten Lesetour einen Freund und Kollegen an: "Ähäm, toll, wie viele Reaktionen ich bekomme. Aber auch ziemlich arg und deprimierend, was da für Kommentare dabei sind." – "Ja, bist du des Wahnsinns", schreit mein Freund ins Telefon. "Das weiß doch jeder, dass man sich das nicht reinziehen darf. Niemals!" – Ein paar Wochen später treffe ich eine bekannte ORF-Moderatorin. Freimütig bekenne ich: "Ja, danke, die Kolumne, alles super ... Aber die Kommentare unter meinen Texten im Netz, die ignoriere ich." – Die Moderatorin sieht mich wie eine strenge Handarbeitslehrerin an und sagt: "Wieso, das sind doch immerhin deine Leser?"

Mittlerweile hat sich das Abenteuer auf einem Mittelweg eingependelt. Mit der Onlinecommunity verhält es sich ein bisschen so wie mit Familienmitgliedern. Es gibt die Interessanten, die Lustigen und die Übergriffigen. Irgendwie mag man sie alle. Aber nicht zu allen Tageszeiten und in allen Verfassungen. Und zum Glück gibt es ja auch noch E-Mails wie: "Ich freue mich schon auf Ihr nächstes Thema."

Meinungsschlachten

Der Wahrheit zuliebe möchte ich an dieser Stelle festhalten: In den meisten Kommentaren geht es gar nicht um mich, sondern um die Sache, das jeweilige Thema im weitesten Sinn. Und das freut einen natürlich, wenn man Menschen dazu anregt, sich auszutauschen.

Am unterhaltsamsten wird es immer, wenn sich endlose Meinungs-Battles ergeben, wie: "Ich finde ältere Männer besser." – "Ich nicht, pfui!" – "Was spricht gegen beides?" – "Habe mit beiden gute und schlechte Erfahrungen gemacht. Momentan hat es mich zu einem Gleichaltrigen verschlagen." – "Warte ein paar Jahre, dann wirst du gegen ein jüngeres Modell ausgetauscht! So endet es immer." – "In deinem Fall vielleicht, weil du nie für deinen Schatz gekocht hast." – "Wozu gibt’s den Pizzadienst?"

Fazit nach zwei Jahren "Lustprinzip": Unter den Lesern gibt es die Agressiven ("Sie sind das Letzte!"). Es gibt die Lügner ("Wir sind seit dreißig Jahren verheiratet und haben immer noch Sex wie am ersten Tag"). Und es gibt die Harmoniesüchtigen ("Man muss nur wollen. Dann fährt man eben seiner Freundin zuliebe mit nach Australien, und alles wird gut").

Es gibt auch jene, die sich einfach mal aussprechen wollen. Vor kurzem las sich das so: "Wennst jung bist, übertreibst einfach. Sei es politisch, sexuell oder auch mit Drogen." – "Betrunken schmusen ist ziemlich geil. Mein Freund sieht das leider nicht so."

Vertrauensfrage

Definitiv hat diese Kolumne das Verhältnis zwischen mir und meinen Freunden – sagen wir es mal so – geschärft. Man kommuniziert jetzt aufmerksamer, umfassender. Denkt das verdichtete Nacherzählen als Metaebene gleich mit.

Regelmäßig heißt es etwa: "Das darfst du auf keinen Fall schreiben! Ich war dabei, da wissen bestimmte Leute sofort, wer gemeint ist." – In solchen Fällen muss man sich als diskrete Spaß- und Kummerkastentante erweisen, indem man die Protagonisten der Geschichten bis zur Unkenntlichkeit verändert (anderer Ort, anderes Geschlecht, anderes Timing). Viele sagen mir nach dem Erzählen ihrer neuesten Liebeswirren auch: "Du darfst es schreiben. Aber erst in ein paar Monaten, wenn Gras über die Sache gewachsen ist."

Collage: Carlos Vergara

Viele fühlen sich auch geschmeichelt. Regelmäßig kommen SMS wie: "Wie toll, ich war an dem Abend dabei!" – Oder: "Ich weiß genau, wer diese Scheißmusik hört, hahaha!"

Um so eine Sexkolumne länger als zehn Ausgaben lang durchzuhalten, muss man sich als verlässliche Gesprächspartnerin erweisen. Weil man nicht alles selbst erleben kann – obwohl unser RONDO-Chef das bis heute von mir glaubt (was mir natürlich sehr schmeichelt). Weil man angewiesen ist auf die eigenen abenteuerlustigen Freunde. Auf Freunde mit Selbstironie und Sinn für Dramaturgie.

Allen voran sei an dieser Stelle gedankt: dem wilden Künstler, der Schauspielerin, der guten Ehefrau und dem tollen Fotografen – ihr wisst, wer ihr seid! Ohne euer Vertrauen und eure beinharten Lebensanalysen hätte der ganze Spaß bis heute niemals funktioniert.

Projektion und Fantasie

Mit neuen Bekanntschaften ist es oft heikel. Seit sich herumgesprochen hat, dass ich eine Sexkolumne schreibe, reagieren die meisten, vor allem Männer, erschrocken bis alarmiert. Ganz so, als lägen sie jetzt auf dem Operationstisch oder auf der Therapiecouch. Die Angst vor Bewertung scheint groß zu sein, da verwechseln einen viele mit der Fachärztin in einer geschlossenen Anstalt. Was lernen wir daraus? Die Liebe ist und bleibt hochintim, trotz modernen Paarungsverhaltens dank Tinder und Parship.

Manchmal tragen mir offenere Zeitgenossen explizite Stellungen und Praktiken als Thema an. Aber Sex als sportliche Leistung, dafür dürfen sich andere interessieren. Ich halte es lieber mit Marguerite Duras und Françoise Sagan. Wenn es um das eine ging, setzten beide Schriftstellerinnen auf Andeutungen. Zu viele Details langweilen und töten die Fantasie. Und darum geht es, denke ich, bis heute in der erotischen Liebe: um Träume und das Ausleben von Fantasien. (Ela Angerer, RONDO exklusiv, 28.4.2022)