Wie trügerisch Umfragen sind, zeigte sich nach dem TV-Duell der französischen Präsidentschaftskandidaten. Emmanuel Macron ging für 59 Prozent der Befragten als Sieger aus der fast dreistündigen Marathondebatte hervor. In der Tat argumentierte der schlagfertige Amtsinhaber in der Sache überzeugender. Aber es gibt auch eine andere Lesart des Streitgesprächs. Das TV-Duell war die bisher letzte Etappe in ihrer jahrelangen, systematisch vorangetriebenen "Entdämonisierung".

Insofern hat Marine Le Pen via TV-Duell ihr wichtigstes Kampagnenziel erreicht: Die meisten Franzosen würden nur noch mit der Schulter zucken, würde "Marine", wie sie sich unter Weglassung ihres Schmuddelnamens Le Pen nennt, am Sonntag ins Élysée gewählt. Deshalb ist Le Pen zumindest die zweite Gewinnerin des TV-Duells: Es malte das Bild einer lächelnden, unaufgeregten, rundum republikanischen Kandidatin.

Emmanuel Macron und Marine Le Pen beim TV-Duell am Mittwochabend.
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Nur: Das Bild ist falsch. Le Pen bleibt eine Extremistin. Sie sagt es nicht, aber ihr Wahlprogramm belegt es schwarz auf weiß. Den Musliminnen will sie das Tragen des Kopftuchs auch auf der Straße verbieten. Das käme nicht einmal einem Donald Trump in den Sinn. Ausländer würden per Verfassung wegen des Prinzips des "nationalen Vorrangs" diskriminiert. Der Universalismus und Egalitarismus der Menschenrechtsnation Frankreich wäre damit am Ende.

Offiziell hat Le Pen seit 2017 Wasser in ihren Wein geschüttet: Sie will nicht mehr aus der EU, dem Euro oder der Nato austreten. Dem militärischen Kommando des Atlantikpakts will sie sich aber nicht mehr unterstellen. Die EU-Beiträge will sie unilateral um fünf Milliarden Euro kürzen, was die Einstimmigkeit – und wohl bald auch die EU – sprengen würde. Ohnehin würde Le Pen die Europäische Menschenrechtskonvention verletzen, die eine statutarische Vorbedingung für die EU-Mitgliedschaft ist.

Weimarer Dreieck

Akademische Streitfragen wären das mitnichten. Le Pen will auch ganz konkret die deutsch-französischen Rüstungsprojekte wie den Kampfjet FCAS oder einen neuen Panzer stoppen. Die europäische Kernbeziehung würde sie wegen "unüberbrückbarer strategischer Differenzen" zwischen Berlin und Paris abbrechen. Ebenso das geschichtssymbolische Weimarer Dreieck aus Deutschland, Frankreich und Polen.

Vielleicht würde es Le Pen durch ein neues Dreieck – geografisch fast eine Achse – mit Viktor Orbán und Wladimir Putin ersetzen. Man muss sich das plastisch vorstellen. Europas neue Achsenmächte würden die gesamte westliche Einheit gegenüber dem Ukraine-Krieg auf einen Schlag zerstören. Die Folgen für Europa, seine Diplomatie, Mitglieder, seinen Frieden wären unabsehbar.

Noch ist es nicht so weit, noch ist die Horrorvision nicht Realität. Herbeireden sollte man sie auch nicht. Schwarzseher sehen eine innere Logik vom Brexit über Trumps Sieg bis zu Le Pens Wahltriumph.

Realos geben allerdings zu bedenken, dass Le Pen nach den Parlamentswahlen im Juni vermutlich mit einem ihr nicht genehmen Premier regieren müsste und einen massiven Bürgerwiderstand gegen sich hätte. Und dann gibt es in Frankreich auch noch Optimisten, die einfach nicht glauben wollen, dass eine mit dem Namen Le Pen in Zukunft das stolze Triptychon der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verkörpern und hochhalten soll. Werden sie recht behalten? Sie müssen. S’il vous plaît! (Stefan Brändle, 21.4.2022)