Foto: Zac Farro

Von Lou Reed gibt es ein Album, das heißt Growing Up in Public. Sein Antlitz auf dem Cover verrät, was dieses Aufwachsen in der Öffentlichkeit bedeutet: einen endlosen Kater. Zwar versuchte der große Zyniker des Rock ’n’ Roll sich dieses Dasein mit Titeln wie The Power of Positive Drinking schönzusingen, seine Tränensäcke aber, sein Blick, sie zeigen, wie verzehrend so ein Leben ist. Ein Burnout, herbeigeführt von 25 Jahren zu wenig Schlaf und zu vielen Drogen.

Vier Jahrzehnte später veröffentlicht die Band The Linda Lindas ein Album mit dem Titel Growing Up. Damit tut sie ihren Schritt in die Öffentlichkeit, die seit einem Jahr darauf gewartet hat. Und im Vergleich zum damals reichlich abgewirtschafteten Lou Reed sind The Linda Lindas voller Energie. Kein Wunder. Die Älteste der vier Girls ist 17, die jüngste noch nicht einmal offiziell ein Teenager.

Punk und Grammy

The Linda Lindas tauchten vor einem Jahr auf. Damals verbreitete das Netz ein Video, das die Band bei einem Auftritt in einer öffentlichen Bibliothek zeigt. Sie spielten das Lied Racist, Sexist Boy, und das beschließt auch das jetzt erschienene Debüt der Lindas. Es ist eine wütende Reaktion auf einen Jungen, der die Schlagzeugerin Mila de la Garza beleidigt hatte. Die seit 2018 als Coverband bestehende Gruppe vertonte ihre Reaktion in Form eines Punk-Songs aus dem Schulbuch: derber Bass, zwei Gitarren, Schlagzeug, Renitenz im Gesang.

Epitaph Records

Damit trafen sie einen Nerv. Denn in den letzten Jahren nahm ein Punk-Revival Fahrt auf, das zuletzt in Gestalt der aus dem Walt-Disney-Kosmos stammenden Olivia Rodrigo sogar Grammy-gewürdigt wurde. Punk und Grammy, das hat sich lange ausgeschlossen. Doch das aktuelle Revival wird Pop-Punk-Revival genannt. Das ist insofern von Bedeutung, als es damit als handzahmere Version des Punk ausgewiesen wird. Die Zuschreibung Pop-Punk bezieht sich auf eine Musik, die von Bands wie Green Day, Blink-182 oder Avril Lavigne massentauglich gemacht wurde, als sie die Zuneigung des Zeitgeists zu Weltkarrieren nutzten.

Zwar ist in der Popkultur in den 1990ern eine Ära angebrochen, in der es kaum noch dominante Stile und stattdessen viele populäre Strömungen nebeneinander gibt, dennoch hat das die Kreisbewegungen der Popkultur nicht unterbrochen: Alles kommt immer irgendwann wieder.

Die Wärmestuben des Internets

Nachdem in den 2000er-Jahren Postpunk mit Bands wie LCD Soundsystem, The Rapture oder Franz Ferdinand ein Revival erlebt hatte, gehörten die Zehnerjahre dem Hip-Hop, elektronischer Heimorgelei unter dem Eindruck sozialer Medien, Smartphone und einer damit trotz Vernetzung einhergehenden Verinselung. Noch bevor das von der Pandemie weiter verstärkt wurde, regte sich eine Gegenbewegung.

Epitaph Records

Die Wärmestuben des Internets wurden manchen jungen Acts zu langweilig. Solipsistische Heimwerkerei zwischen Kuscheltier und Essensresten ist nicht für alle die beste Rahmenbedingung für die Musikproduktion, es erwachte ein Hunger nach der Dynamik in einer Band.

Rebellische Ambitionen

Die dem Punk innewohnende Idee der Selbstermächtigung bietet da von jeher ein Ventil. Zudem erfüllt Punk als gerne die Grenzen ausreizende Attitüde rebellische Ambitionen, Katharsis ist nicht nur im esoterischen Urschreiwochenende um viel Geld zu haben, eine angemessen rabiate Band bietet dasselbe auch unter der Woche. Billiger noch dazu.

Selbst gegen die ständige Untergangsstimmung im Netz – Stichwort: Doomerism – ist mit den berühmten drei Akkorden im Verband mit Gleichgesinnten leichter umzugehen als mit dem 800-milliardsten Emoji auf dem Screen.

Epitaph Records

Es entstanden unzählige Bands wie die Veronicas oder Beach Bunny, es tauchten grenzgängerische Figuren auf wie Willow Smith, und es mischen vielseitige Altspatzen mit wie Travis Barker. Auffällig am Pop-Punk-Revival ist die hohe Anzahl der involvierten jungen Frauen, dementsprechend präsent sind feministische Anliegen und Themen.

Craft-Punk

Ebenso auffällig ist die Anzahl an Genre-Hoppern wie Machine Gun Kelly. Der bleiche Bube hat im Hip-Hop begonnen und spielt heute Pop-Punk. Könnte man als Fähnchen im Wind deuten, die Wandlung hat seiner Popularität aber keinen Abbruch beschert. Außerdem gibt es ohnehin kaum Berührungsängste zwischen den Genres. Pop-Punk darf Beats genauso verwenden wie Synthesizer oder Laptop. Reinheitsgebot war früher, heute herrscht Craft-Punk.

The Linda Lindas hingegen spielen traditionellen Westcoast-Punk, das liegt an der familiären Nähe zur Szene über den Vater der De-la-Garza-Schwestern Lucia und Mila, der das Album produziert hat. Zum anderen wohl einfach an ihrer Jugend. Dafür haben sie prominente Fans und Mitstreiter wie sonst kaum jemand: Von Iggy Pop über Kathleen Hanna bis zum Beastie-Boys-Keyboarder Money Mark oder Flea von den Chili Peppers sind alle angetan von den Lindas. Und Medien wie Elle, für die die Lindas schon gemodelt haben. Schließlich ist Punk manchmal sogar süß, nicht bloß sauer. (Karl Fluch, 23.4.2022)