Selbstverständlich kann "der Westen" es mit der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine nicht langsam angehen lassen. Wer das tut, begünstigt objektiv die russischen Aggressions- und Expansionspläne. Die hat der stellvertretende Befehlshaber des zentralen russischen Militärbezirks, Generalmajor Rustam Minnekajew, soeben in dankenswerter Offenheit klargelegt: Russland werde außer dem Donbass auch den ganzen Süden der Ukraine bis Transnistrien erobern. Die dortige russische Bevölkerung sei auch unterdrückt.

Um die Bedeutung dieser Ankündigung zu erkennen, hilft ein Blick auf die Landkarte. Transnistrien ist ein schmaler Landstreifen entlang des Flusses Dnjestr in der Westukraine. Es war Teil der russischen Teilrepublik Moldawien, hat sich aber abgespalten, nachdem Moldawien (heute: Moldau) ein eigener Staat wurde. Moldau grenzt unmittelbar an Rumänien. Um einen Zugang zu Transnistrien zu sichern, wie der Generalmajor sagt, müsste die russische Armee wohl den gesamten Süden der Ukraine erobern, inklusive der zentralen Hafenstadt Odessa. Das wäre das Ende der Ukraine.

Putins Ideologie hat die Vernichtung eingebaut: zuerst die Opposition im Inland, dann die "Feinde" im Ausland.
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Noch ist es nicht so weit, aber die Zeit läuft. Der Plan B der Russen sieht eine großanlegte Offensive vor, um den Landzugang zur Krim zu sichern. Das bedeutet, die Ukrainer brauchen schwere Waffen – Panzer, Artillerie, Raketenwerfer, um eine offene Feldschlacht schlagen zu können. Hinterhalte mit schultergestützten Raketenwerfen und Drohnen sind nicht mehr genug.

Deshalb ist die Alternative zum Verzögern oder Verweigern schwerer Waffen durch den Westen die Kapitulation der Ukraine. Tatsächlich wird das den Ukrainern auch empfohlen, wenn auch verklausuliert, von verschiedenen westeuropäischen Friedensfreunden, hierzulande von einer Gruppe um den renommierten Politologen Heinz Gärtner. Diese Linie, die typisch ist für ein Denken der europäischen Friedensfreunde, darf nicht heruntergemacht werden. Man kann nicht vom Schreibtisch aus bis zum letzten Ukrainer kämpfen.

Putins brandgefährlicher Expansionismus

Aber wenn man historisch denkt, kommt man um eines nicht herum: Bei Wladimir Putins Regime handelt es sich um großrussischen Faschismus – und es ist historische Erfahrung, dass Faschismus, noch dazu der einer Großmacht, zwangsläufig zum Krieg führt. Es ist eine Ideologie, die den Drang zur Vernichtung sozusagen eingebaut hat, zuerst die Vernichtung der Opposition im eigenen Land, dann die der "Feinde" außerhalb des Landes. Expansionistische Diktatoren müssen immer weitermachen.

Das gilt auch für Putin, von ihm kommt jetzt die wahre "Kriegsrhetorik", nicht vom "Westen" oder den US-Amerikanern. Aus Generalmajor Minnekajew spricht die brandgefährliche russische Paranoia: "Es scheint, als würden wir gerade mit der ganzen Welt kämpfen. Sie haben Russland nie gemocht."

Ein Kriegsziel wie die Eroberung der Südukraine widerstandslos zuzulassen bedeutet auch höchste Gefahr für Europa. Moldau wäre der nächste Kandidat, Rumänien extrem gefährdet. Daher sind rasche Waffenlieferungen unerlässlich. Aber um den Preis von endlos Tod und Zerstörung? Es besteht eine gewisse Chance, dass die Ukrainer die neue Offensive der Russen stoppen können, nachdem die ein paar Geländegewinne erzielt haben. Das könnte Putin zunächst als "Sieg" verkaufen. Bis er dann wieder von Neuem beginnt, und das hat er unzweifelhaft vor, kann einiges passieren. Jetzt aufzugeben ist für die Ukrainer und den Westen keine Option. (Hans Rauscher, 23.4.2022)