Alle Hauptstädte (außer Wien, das es nicht einmal schafft, einen Plan für Energieunabhängigkeit zu entwickeln) planen Szenarien für den Ukraine-Krieg auf Ende 2022. Hier ist eines: Erschöpfungsstarre nach intensiven Gefechten; ein Teil des Ostens der Ukraine bleibt unter russischer Kontrolle.

Es ist zwar denkbar, dass die Ukraine stark genug wird, um 2014 verlorenes Gebiet zurückzugewinnen, aber je stärker Wladimir Putin in die Enge gedrängt wird, desto mehr ist damit zu rechnen, dass er eskaliert.

Ohne dass wir auf den Import von Öl und Gas verzichten, ohne eine komplette wirtschaftliche Blockade, bleibt dem Moskauer Potentaten auch ausreichend finanzielle Atemluft. Mit anderen Worten: Wir hüten uns, dem Tiger auf den Schwanz zu treten. Und ein Tiger ist Putin. Alt, räudig, fast zahnlos, aber immer noch in der Lage, einen letzten, fürchterlichen Kampf zu kämpfen, auch wenn dieser den eigenen Untergang bedeutet.

Putin braucht etwas, das er als Sieg verkaufen kann, will er nicht das Ende seiner Herrschaft riskieren. Dass die "Entnazifizierung" der Ukraine gescheitert ist, die Einnahme Kiews ein Fehlschlag war: Schwamm darüber, solange es ihm gelingt, "russische Gebiete" im Osten der Ukraine zu "befreien".

Bild nicht mehr verfügbar.

Je stärker Wladimir Putin in die Enge gedrängt wird, desto mehr ist damit zu rechnen, dass er eskaliert.
Foto: AP

Gut möglich, dass der Westen Putin diesen "Sieg" schenken wird und die Ukraine einwilligt, um das Schlachten zu beenden. Den Tiger werden wir so in seinen Käfig zurückschicken im Wissen, dass er Zeit brauchen wird, um seine Wunden zu lecken.

Persona non grata

Natürlich wird die Annexion der Ostukraine genauso wenig völkerrechtlich anerkannt werden wie die der Krim. Putin wird zeit seines Lebens eine Persona non grata bleiben; Wirtschaftssanktionen werden Jahre bestehen. Trotzdem wird die Beruhigung der Lage (Frieden möchte man das nicht nennen) genau das sein: Land gegen ein Stillstehen der Waffen. Die Zukunft gehört in diesem Szenario der Ukraine. Gestählt aus einem langen Krieg hat sie das Potenzial, ein neues Israel zu werden. Die Ukraine hat ihren Lebenswillen bewiesen, der unglaubliche Mut schafft einen neuen Gründungsmythos und eine klare Identität.

Wir schulden der Ukraine nach unserem Sündenknicks vor Putin einen massiven Marshallplan. Ein echter Frieden wäre schön, aber im Schatten der Bedrohung großer und wirtschaftlich schwacher Nachbarn ist auch ohne ihn ein Boom möglich, wie Israel beweist. Am schwierigsten wird die Frage eines nuklearen Schirms, der das Überleben Israels sichert: Braucht es ihn auch für die Ukraine? Sicherheit nur mit konventionellen Mitteln funktioniert nur, solange in Moskau kein zum Letzten entschlossener Psychopath an der Macht ist. (Der russische Patriarch Kyrill sagte schon 2010: "Kiew ist unser Jerusalem.") Ukrainische Atomwaffen wären ein Casus Belli auch für ein am Boden liegendes Russland, ein Nato-Beitritt der Ukraine ebenfalls.

Das Israel-Szenario kann auch für Russland ein Weg sein, wenn das Land es so wie einige arabische Staaten schafft, den Wunsch nach Vernichtung des kleineren Nachbarn zu überwinden – was wohl Generationen brauchen wird. Damit wir jemals dorthin kommen, müssen wir alles tun, damit die Ukraine die russische Militärmaschine jetzt stoppen kann. (Veit Dengler, 25.4.2022)