Die Vernunft hat gesiegt. Weit über Frankreich hinaus herrscht Erleichterung, dass Amtsinhaber Emmanuel Macron in diesen unsicheren Zeiten wiedergewählt wurde. Oder genauer: dass die Nationalistin Marine Le Pen nicht gewählt wurde. Nicht auszudenken, was im Fall ihres Wahlsieges geschehen wäre. Institutionalisierter Fremdenhass hätte wohl in die Verfassung der Menschenrechtsnation Eingang gefunden. Deutschland und die EU hätten der Freundschaft mit Frankreich Adieu sagen können. Und im Kreml hätte sich Kriegsherr Wladimir Putin ins Fäustchen gelacht.

Ein Triumph für den Sieger ist das Wahlresultat, so klar es scheint, aber keineswegs. Viele Franzosen gaben Macron die Stimme nur, um Le Pen zu verhindern. Macron geht geschwächt in sein zweites Mandat. Schon das erste war von Gelbwesten- und Rentenprotesten geprägt, von der Covid-Krise und dem Ukraine-Krieg überschattet.

Emmanuel Macron wurde wiedergewählt.
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Populisten wie Le Pen, Eric Zemmour oder Jean-Luc Mélenchon werden den zwar siegreichen, aber unpopulären Staatschef nun in die Zange nehmen. Will er etwa endlich seine Pensionsreform starten, die er in seinen ersten fünf Élysée-Jahren vertagt hatte, muss er sich auf geballten Widerstand gefasst machen. Wie angefochten seine Position ist, zeigte sich schon im Wahlkampf, als er seine zentrale Reform mit Pensionsalter 65 bereits abschwächen musste. So könnte es Macron nun fünf weitere Jahre lang gehen.

Paradoxerweise geht die Opposition gegen Macron gestärkt aus den Präsidentenwahlen hervor: Die diversen Rechts- und Linkspopulisten kamen im – politisch aussagekräftigen – ersten Wahlgang auf über die Hälfte der Stimmen. Das wird die zweite Amtszeit des angeschlagenen Staatschefs prägen.

Keine guten Aussichten

Fazit der Präsidentschaftswahl: Ein moderater, proeuropäischer Präsident hat gesiegt; den Ton werden aber radikale nationalistische Populisten angeben. Das sind keine guten Aussichten. Le Pen und Mélenchon werden alsbald zum sozialen Aufstand gegen Macron blasen. Es wird eine raue Partie.

Denn anders als bei seiner ersten Wahl 2017 wird Macron nicht mehr von der Aura des kometenhaft gestarteten Newcomers profitieren. Dass er mit seinem Sieg über Le Pen ganz Europa vor einer politischen Katastrophe bewahrt hat, wird auch rasch vergessen sein. Man kann nur sagen: Viel Glück, monsieur le président.

Zumal die wirtschaftliche Lage Frankreichs sehr fragil ist. Macron hat den Wahlkampf zwar auch deshalb gewonnen, weil die Arbeitslosigkeit seit 2017 von fast zehn auf 7,4 Prozent gesunken ist. Das Wirtschaftswachstum liegt höher als in Deutschland, die Inflation tiefer. Doch der Schein trügt. Die französische Staatsschuld ist seit 2019 von 100 auf 115 Prozent des Bruttoinlandsproduktes hochgeschnellt. Nur ein Drittel floss in die Bekämpfung der sozialen Pandemiefolgen. Steigen die Zinsen auch nur leicht an, kann Frankreich seine Schulden nicht mehr bedienen.

Zudem grassiert die Armut an den Stadträndern und auf dem Land, wo viele Le-Pen-Wähler leben. Die Inflation setzt vielen Französinnen und Franzosen schwer zu. Auch deshalb besteht nach dieser Wahl kein Grund zur Begeisterung über das Resultat: Frankreich steuert nach der kurzen Erleichterung über Le Pens Niederlage auf sehr schwierige, sozial explosive Zeiten zu. (Stefan Brändle, 24.4.2022)