Proteste in Istanbul gegen das Urteil gegen Kavala.

Bedauerlicherweise ist das Urteil "lebenslänglich" für den türkischen Unternehmer, Kulturmäzen und Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala keine Überraschung. Nachdem der Spionagevorwurf fallengelassen worden war, wehte einen zwar kurz die Hoffnung an, die türkische Justiz würde versuchen, aus der haarsträubenden Sache wieder herauszukommen. Aber die Willfährigkeit einer Führung gegenüber, die auf die Vernichtung des politischen Gegners abzielt, hat die Oberhand behalten.

Der Prozess war eine Farce, und das Urteil ist nicht nur eine Tragödie für den Betroffenen, sondern auch ein weiterer Fleck auf der Reputation der Türkei als Rechtsstaat. Man erinnere sich, dass nach einem ersten Prozessabschluss im Oktober 2021 Präsident Tayyip Erdoğan zehn westlichen Botschaftern, davon sieben aus Nato-Staaten, mit der Ausweisung drohte, weil sie das Verfahren kritisierten. Es wird interessant, ob sich dieser Schlagabtausch diesmal wiederholt. Denn eine wertebasierte Außenpolitik ist ja – zumindest verbal – noch wichtiger geworden, seitdem sich die EU öffentlich geißelt, die autoritären Tendenzen Russlands nach innen und außen zu lange ignoriert zu haben.

Aber gleichzeitig ist Krieg auf europäischem Boden. Die Bedeutung der Türkei für den Westen ist, ob wir das wollen oder nicht, als Nato-Mitglied und Wächter über den Bosporus, der für russische Kriegsschiffe gesperrt wurde, gestiegen. Ankara könnte – man denke daran, was Bundeskanzler Karl Nehammer nach seinem Besuch in Moskau nur angedeutet, leider nicht ausgeführt hat – künftig bei der Energieversorgung Europas eine größere Rolle spielen. Und falls sich die erschreckenden Prognosen betreffend Lebensmittelknappheiten in Nahost, verursacht durch Ernteausfälle in der Ukraine, bewahrheiten, wird die EU Ankara auch wieder beim, zynisch gesagt, Management der Flüchtlings- und Migrationsströme brauchen. Das ist die Realität. (Gudrun Harrer, 26.4.2022)