Bürgermeister Michael Ludwig übergibt das Buch von Else Bienenfeld deren Erbin Susie Deyong.

Foto: Barbara Nidetzky/MUK

Dass Bücher einem eine neue Welt eröffnen können, ist bekannt. Im Falle eines eigentlich sehr kleinen Büchleins war das auf mehreren Ebenen der Fall. Der Titel würde das bei dem musiktheoretischen Laien nicht unbedingt erwartbar machen: "Ratschläge für Ausführungen klassischer Symphonien. Band II: Schubert und Schumann" heißt es. Doch als Mitarbeiter der Musik- und Kunst-Privatuniversität der Stadt Wien (Muk) im Zuge der Aufarbeitung der Vergangenheit und der Bibliotheksbestände des Hauses das Büchlein aufschlugen, habe sich "ein ganzes Universum an Kulturgeschichte aufgetan", erzählte der Rektor der Uni, Andreas Mailath-Pokorny, am Dienstag.

Handschriftliche Widmung

Der Grund war eine handgeschriebene Widmung: "Frl. Dr. Else Bienenfeld zum Andenken an F. Weingartner, Wien Jänner 1920". Diese Widmung löste einiges aus, unter anderem die feierliche Übergabe des Buches an die in London lebenden Erben von Else Bienenfeld am Dienstag an der Uni in der Johannesgasse im ersten Wiener Bezirk. Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) übergab der Großnichte Susie Deyong das Buch.

Bürgermeister Ludwig, Susie und Nick Deyong mit IKG-Präsident Oskar Deutsch und Rektor Andreas Mailath-Pokorny (von links) vor der neuen Gedenktafel in der Johannesgasse.
Foto: Barbara Nidetzky/MUK

Danach enthüllten die beiden im Beisein von Wissenschaftsstadträtin Veronica Kaup-Hasler und dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Oskar Deutsch eine Gedenktafel an der Uni, die an die Geschichte der Muk erinnert. An ihrem Standort wurde nämlich wenige Monate nach der Annexion Österreichs im Sommer 1938 nach der Auflösung mehrerer Konservatorien die "Musikschule der Stadt Wien" von den Nationalsozialisten gegründet. Auf der Tafel ist auch das Bekenntnis der heutigen Unis zur "Stärkung des Kunst- und Kulturschaffens im Geiste der Freiheit, der Unabhängigkeit und der Toleranz" eingraviert. Der Text auf der Tafel ist in den vier Sprachen, die von Studierenden an der Muk am häufigsten gesprochen werden, geschrieben: neben Deutsch Chinesisch, Koreanisch und Russisch.

Berührende Rede

Doch sie blieb nicht die einzige Gedenktafel, die am Dienstag enthüllt wurde. Denn die Widmung an Else Bienenfeld brachte noch mehr Geschichte ans Licht. Der ebenfalls angereiste Urgroßneffe Nick Deyong hielt eine bewegende Rede (in voller Länge am Ende des Artikels), in der er beschrieb, wer seine Vorfahren, die Familien Bienenfeld und Blauhorn, waren. Sein Urgroßvater Josef Blauhorn, Oberhaupt einer der prominentesten jüdischen Familien in Wien, war Geschäftsführer des Unternehmens Gebrüder Gutmann.

Kinder im Garten der Villa Blauhorn vor dem Zweiten Weltkrieg. In der Mitte ist Susie Deyongs Vater Karl zu sehen.
Foto: privat/Familie Deyong

Er lebte mit Urgroßmutter Gusti in einer Villa in Grinzing, die ihnen weggenommen wurde. Die beiden flohen über die Schweiz nach England. Doch die Schwester seines Stiefurgroßvaters Else Bienenfeld wurde in einem KZ ermordet.

Heute steht auf dem Grundstück, auf dem einst die Villa stand, ein Gemeindebau, an dem die zweite Tafel enthüllt wurde.

Stolze Wienerinnen und Wiener

Seine Vorfahren waren Juden und Jüdinnen und "stolze Wienerinnen und Wiener, die in hohem Maße zum Wohl Österreichs beigetragen haben und fast 300 Kunstwerke von hauptsächlich österreichischen Künstlern gesammelt haben".

Nick Deyong betonte auch, dass es für seine Mutter Susie nicht einfach gewesen war, nach Wien zu kommen. Sie war als Einzelkind von Eltern aufgewachsen war, denen es unmöglich war, über die Grausamkeiten, die ihnen angetan wurden, zu sprechen. Deyong zog Vergleiche mit der Situation von Flüchtlingen heute.

Grundstück in Grinzing

Er erhoffe sich für die Familie, dass man mit der Vergangenheit abschließen könne, und appellierte an die Stadt Wien, in Grinzing nicht nur eine Tafel zu installieren, sondern das von den Nazis geraubte Grundstück der Familie zurückzugeben bzw. mit dem Geld eine wohltätige Stiftung im Namen seiner Urgroßeltern gründen könnte.

Die Villa Blauhorn in Grinzing vor dem sogenannten Anschluss. Heute steht auf dem Grundstück ein Gemeindebau.
Foto: privat/Familie Deyong

Die Deyongs haben nun auch die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten.

Man habe zwar der Familie das Grundstück in den 1950er-Jahren abgekauft, erzählt Deyong nach der Veranstaltung dem STANDARD, aber man hatte damals keine Wahl gehabt und musste es weit unter seinem Wert der Stadt überlassen. "Als Familie möchten wir, dass diese Fakten von der Stadt Wien voll anerkannt werden", sagt Deyong. Im Krieg sei die Villa zunächst für Lehrer und die Hitlerjugend genutzt worden, danach ist der Bau geschliffen und der Gemeindebau errichtet worden.

Nick Deyong betonte, dass seine Familie am bestehenden Gemeindebau nichts ändern würde, der Besuch des Areals am Dienstagnachmittag nach seiner Rede am Vormittag habe ihn mit Trost erfüll: "Da lebt eine sehr schöne Gemeinschaft, da spielen Kinder, ich glaube, das hätte meinen Großeltern, die hier als Kinder gelebt haben, gefallen. Wir wollen kein Geld, aber Anerkennung und die Sicherheit, dass dieses Grundstück nie anders verwendet wird, diese Gemeinschaft soll geschützt werden." Die Stadt könne im Namen seiner Vorfahren etwa Geld für eine Stiftung bereitstellen, "für Kunst oder für Flüchtlingsprojekte, Hauptsache, es bewirkt etwas Positives für die Zukunft".

Seitens der Stadt gab es dazu spontan noch keine Reaktion.

Publikation zur NS-Geschichte der Muk

Mit der Aufarbeitung der Geschichte der Muk während der NS-Zeit befasst sich das umfassende Forschungsprojekt "Hausgeschichte – Zeitgeschichte" eines Teams um den Historiker Oliver Rathkolb. Die daraus resultierende 300 Seiten starke Publikation "Die Musikschule der Stadt Wien im Nationalsozialismus – Eine ideologische Lehr- und Lerngemeinschaft" ist 2020 im Hollitzer-Verlag erschienen. Darin werden nicht nur die erzwungene Gleichschaltung des Wiener Musikschulwesens und die inhaltlichen Auswirkungen auf die Kunstszene erörtert, sondern auch die Profiteure und Opfer des NS-Systems dokumentiert.

Zudem wird man in einem Gedenkbuch auf einer gleichnamigen Online-Plattform laufende Forschungsergebnisse ergänzen, wie Susana Zapke von der Muk betonte.

(Colette M. Schmidt, 27.4.2022)