Der deutsche Philosoph Richard David Precht hält gegen Alice Schwarzer: Es gehe vordringlich um die "körperliche Unversehrtheit" der Ukrainer und Ukrainerinnen.

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Mit offenen Briefen von Prominenten ist es so eine Sache. Schreibt man diese von der Wirkung her eher ans Salzamt? Wenn nicht, sind diese dazu in der Lage, die öffentliche Stimmung aufzuheizen oder gar zu beeinflussen? Wie man anhand der Aktion "Alles dicht machen" 2021 beobachten konnte, ist so ein Appell von Schauspielerinnen wie Nina Proll oder Manuel Rubey gegen die Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung eine zweischneidige Angelegenheit. Er kann leicht in die andere Richtung ausschlagen. Stichwort: Bitte nicht die Trolle füttern. Von Shitstorms für die Unterzeichnenden ganz zu schweigen. Nach ein paar Tagen hat sich die Aufregung ohnehin wieder gelegt.

Neben der erwartbaren Aufregung auf Twitter (Stichwort: Geht doch in Moskau oder zwischen den Fronten gegen den Krieg demonstrieren!) kommen nun auch unaufgeregtere Stimmen zu Wort, die sich gegen den offenen Brief Schwarzers aussprechen.

Philosoph Richard David Precht meint etwa, dass es in diesem Krieg nicht nur um die "territoriale Integrität" der Ukraine gehe. Angesichts der Kriegsverbrechen gehe es um die "körperliche Unversehrtheit" der Ukrainerinnen. Der deutsche Musiker Wolfgang Müller meint: "Was mit der Ukraine passiert, ist das staatliche Äquivalent zu einer Vergewaltigung durch den Ex-Mann, mit angedrohter Vernichtung bei Gegenwehr. Dass ausgerechnet eine Feministin wie Alice Schwarzer vor diesem Hintergrund die Empfehlung ausspricht, lieber nicht zu arg zu helfen, um dem Gewalttäter keinen Vorwand für einen dritten Weltkrieg zu liefern, ist zumindest bemerkenswert."

"Motiv des Verbrecherischen ist eindeutig dokumentiert"

Soziologe Armin Nassehi argumentiert: "Das imaginierte Motiv des Aggressors westlichen Waffenlieferungen zuzuschreiben, ist zu simpel. Das Argument verkennt zum einen, dass das Motiv des Verbrecherischen mit dem Angriff auf die Ukraine schon deutlich dokumentiert ist. Zum anderen verkennt es, dass die Drohung mit dem Atomschlag ein Spielzug ist, exakt die Reaktionen zu provozieren, die in dem Brief formuliert werden."

Der polnische Autor Szczepan Twardoch schreibt im Spiegel, die Unterzeichner des Briefes würden sich "bis ans Lebensende für ihre Unterschriften schämen, und die Welt wird ihnen und ihresgleichen nicht vergessen, dass sie im Augenblick der Bewährung für den Stärkeren – für den Bösen – Partei ergriffen haben."

Dagegen hält der deutsche Schauspieler Edgar Selge, der Alice Schwarzers Brief unterzeichnete: "Wir müssen die Ukrainer dazu bringen, sich zu fragen, wie viele Menschen sie in diesem Verteidigungskampf noch opfern wollen. Sie können diesen Krieg gegen Putin nicht gewinnen." (Christian Schachinger, 2.5.2022)