Die Diskussion in Österreich über den Ukraine-Krieg zeigt: Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem, was viele Österreicherinnen mit der Neutralität verbinden, und dem, was von ihr tatsächlich übrig geblieben ist.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen wir einen Kompromiss mit der Sowjetunion ein: Im Gegenzug für die immerwährende Neutralität bekamen wir unsere staatliche Freiheit wieder. Der Gesetzgeber hat im Neutralitätsgesetz 1955 die Verpflichtung festgehalten, dass wir keinem Bündnis beitreten und keine Stützpunkte fremder Truppen in Österreich zulassen würden. Er hat auch von immerwährender Neutralität gesprochen, die uns neben diesen beispielhaft aufgezählten Verpflichtungen auch gebunden hat, Vorwirkungspflichten militärischer und wirtschaftlicher Art in Friedenszeiten zu beachten, um im Kriegsfall nicht gezwungen zu sein, Partei für eine Seite ergreifen zu müssen.

Wir sind jetzt nicht einmal mehr bündnisfrei. Mit unserem EU-Beitrittsvertrag 1994, den nachfolgenden EU-Vertragsänderungen und der Anpassung des Artikels 23j unserer Verfassung sind wir verpflichtet, einem anderen EU-Mitglied zu Hilfe zu eilen, wenn es angegriffen wird. Wir können – aber müssen nicht – militärisch helfen. Wir müssen aber jedenfalls nichtmilitärisch helfen, dürfen uns nicht neutral verhalten. Rechtlich sind wir damit nicht neutral, nicht bündnisfrei.

Österreich ist verpflichtet, einem anderem EU-Mitglied zu Hilfe zu eilen, wenn es angegriffen wird.
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Immerwährend neutral?

So wie wir der Staatengemeinschaft 1955 notifiziert haben, dass wir immerwährend neutral sind, können wir ihr jederzeit notifizieren, dass wir es nicht mehr sind. Da die internationale Staatengemeinschaft – einschließlich Russlands – nicht widersprochen hat, als wir die EU-Verträge unterschrieben haben, müssen wir die Notifikation aber gar nicht vornehmen: Völkerrechtlich ist von einer "stillschweigenden Akzeptanz" des Endes unserer Verpflichtung zur Bündnisfreiheit auszugehen. Wir haben uns völkerrechtlich abgesichert, als wir die entsprechenden unionsrechtlichen Verpflichtungen eingegangen sind, die die immerwährende Neutralität beseitigt haben.

Wenn heute das Wort Neutralität verwendet wird, spart es die unionsrechtlichen Verpflichtungen nicht aus, es suggeriert aber der Bevölkerung immer noch einen Status, den wir schon längst nicht mehr haben. Das hat mit der Angst unserer Politiker zu tun: Im Gegensatz zu Finnland, zum Beispiel, fehlen unserem politischen Establishment die Offenheit und die Fähigkeit zur souveränen und gehaltvollen Diskussion schwieriger Themen. Das zeigt sich auch rechtlich: Es gibt verbleibende Unklarheiten zwischen den EU-Verträgen, die Teil unserer Verfassung sind, und anderen Teilen der Verfassung.

Solange rundherum nichts passiert ist, konnte man das tolerieren. Aber Sicherheitspolitik ist ja genau die Vorbereitung des Landes für Notfälle. Wir müssen feststellen, dass wir gar nicht vorbereitet sind: Es ist nicht klar, was die Mission und die Aufgaben des Bundesheeres sind. Für einen ernsthaften Verteidigungsfall wie in der Ukraine ist es völlig unzureichend ausgerüstet. Wir sind auch gedanklich nicht vorbereitet: Wir haben keinen Konsens, dass wir Teil des Bündnisses namens EU sind.

Wir müssen reden. (Veit Dengler, 9.5.2022)