Wo mehr auf dem Spiel steht als bloß die persönliche Freiheit: Der Film "107 Frauen (Cenzorka)" erzählt über ein Frauengefängnis in Odessa.

In einem Gefängnis in Odessa sitzen Frauen ein, die alle mehr oder weniger vergleichbare Delikte begangen haben: Sie haben ihre Männer getötet oder deren Geliebte. Verbrechen aus Leidenschaft nannte man das früher, inzwischen versteht man besser, dass Beziehungsdelikte mehr mit Leidensdruck als mit Gefühlsüberschwang zu tun haben. Der slowakische Regisseur Peter Kerekes erzählt in 107 Frauen (Cenzorka) von einer Institution, in der die Frauen unter sich sind. Ein Raum der Autonomie, in dem es allerdings eine wichtige Frist gibt: Länger als drei Jahren dürfen die in der Haft geborenen Kinder nicht bei der Mutter bleiben. Das bedeutet, dass im Fall eines Antrags auf vorzeitige Entlassung manchmal mehr auf dem Spiel steht als persönliche Freiheit.

107 Frauen ist im Kern ein Dokumentarfilm, der sich unmerklich in ein Drama verwandelt. Als tschechisch-slowakisch-ukrainische Koproduktion ist der Film auch ein Ausweis der wachsenden Integration des ukrainischen Kinos in das europäische. Das galt jedenfalls bis zu Kriegsbeginn, nun ist alles ungewisser denn je.

Die kleine, aber aufblühende Filmnation Ukraine hatte Putin mit seinem Angriff sicher nicht im Sinn. Aber auch auf dieser Ebene ließ sich in den letzten Jahren viel von den Bemühungen um ein demokratisches Gemeinwesen erkennen, von denen die Ukraine nicht erst seit 2014 geprägt war. Wenn das Filmarchiv Austria nun eine Schau mit 16 Filmen unter dem Titel Filmland Ukraine anbietet, dann legt sich dieser Beobachtungszeitraum mehr oder weniger von selbst fest: Mit dem Euromaidan 2013/14 begann für die Ukraine eine neue Zeitrechnung.

Im Kino war das Jahr 2014 von zwei Solitären geprägt: Myroslaw Slaboschpyzkyj erregte in Cannes und danach in den Programmkinos der Welt mit The Tribe Aufsehen, einer konsequent mit Gestensprache operierenden Geschichte um Jugendliche in einem Internat für Gehörlose, die dort eine brutale Schule der Ausbeutung durchmachen. Und Sergei Loznitsa brachte schon bald nach dem Ende der großen Demonstrationen seinen Revolutionsfilm Maidan heraus, der bis heute umstritten ist, weil man ihm einen zu distanzierten Blick auf die Volksbewegung vorwirft. De facto aber traf Loznitsa gerade die Repräsentativität jedes einzelnen Auftritts auf dem Maidan (und jedes dafür geschmierten Butterbrots) sehr gut.

Eine Kontroversgeschichte

Mit der internationalen Ausnahmestellung des in Berlin lebenden, streitbaren Intellektuellen Loznitsa plagt sich das ukrainische Kino seither herum, bis zu dem Ergebnis, dass ihn die dortige Filmakademie bald nach Kriegsbeginn ausgeschlossen hat. Man könnte eine Retrospektive über das Filmland Ukraine in den letzten Jahren ohne weiteres auch als Kontroversgeschichte nur über die Arbeiten von Loznitsa erzählen, der zuletzt mit Babyn Jar. Kontext den ambitioniertesten Montagefilm zur ukrainischen Geschichte im Zweiten Weltkrieg vorgelegt hat. Man würde dann aber vor lauter Alphamännertum übersehen, dass sich das ukrainische Kino seit 2014 differenziert hat.

Und zwar auch ein bisschen unter der Hand der Filmbehörden, die durchaus regierungsfeudal geführt wurden, zuerst unter Präsident Poroschenko und dann auch unter Selenskyj, dem die Branche bis zum Krieg durchaus skeptisch gegenüberstand. Auch in der Ukraine gibt es Fraktionen, die das Filmschaffen vor allem am Auslands-Oscar messen, während sich aber neue Talente bemerkbar machen konnten, darunter nicht wenige Frauen: Natalija Woroschbyt (mit ihrem Donbass-Drama Bad Roads), Kateryna Hornostaj (die mit Stop-Zemlya einen der besten Jugendfilme aus dieser Periode gemacht hat), Iryna Zilyk (auch sie beschäftigt sich in The Earth is Blue as an Orange mit der Situation im Osten des Landes). Dazu wäre mit Alina Horlowa noch eine weitere Regisseurin zu zählen, die mit This Rain Will Never Stop eine ungewöhnliche, man könnte fast sagen: geologische Ästhetik für den Fall eines jungen Syrers gefunden hat, den eine komplizierte Familiengeschichte zuerst nach Luhansk, dann nach Kiew und später nach Deutschland, schließlich über die Türkei zurück nach Syrien führte.

Im Vergleich zu diesen Feldforschungen nehmen sich die männlichen Positionen konventioneller aus: Walentyn Wassjanowytsch aspiriert mit Atlantis deutlich auf die Rolle des nationalen Filmkünstlers, während Roman Bondartschuk mit Volcano (2018) nicht nur regional (am Schwarzen Meer) dem analytischen Beobachtungsgestus des rumänischen Kinos nacheifert. Die Reihe im Filmarchiv Austria ist so vielfältig, dass man sie im Grunde nur en bloc empfehlen kann. Auch als Vorwegnahme eines künftigen Wiederaufbaus des Filmlandes. (Bert Rebhandl, 11.5.2022)