Sigmund Freud, gezeichnet von Salvador Dalí. Die Ausstellung "Dalí – Freud. Eine Obsession" ist noch bis zum 29. Mai im Wiener Belvedere zu sehen.

Foto: Bildrecht, Wien 2022/ Salvador Dali

Um Sigmund Freud ist es still geworden. Dem Begründer der Psychoanalyse widmet die Fakultät für Psychologie der Universität Wien kaum noch Lehrveranstaltungen. Die gerne geäußerte Empörung darüber, wie schwer es Freud an dieser Universität gehabt habe, bis er endlich zum außerordentlichen Professor ernannt wurde, ist scheinheilig.

Heute reichte es wohl nicht einmal mehr für einen Lehrauftrag. Die Kernstücke seiner Theorie gelten vielen entweder als überholt oder schon wieder als höchst anstößig: der Ödipuskomplex, das Wechselspiel von männlicher Kastrationsangst und weiblichem Penisneid, die missverständliche Theorie der infantilen Sexualität, die immer schon inkriminierte Lehre vom Todestrieb.

Wenn, dann spielen diese Konzepte noch eine produktive Rolle in den Literatur- und Kulturwissenschaften, kaum noch in der wissenschaftlichen Psychologie. Gerade die Annahme eines "Unbewussten" erfreut sich in ihrer trivialisierten Form noch einer gewissen allgemeinen Beliebtheit. Ebenfalls umstritten ist die Technik der Psychoanalyse als therapeutischer Praxis, nicht zuletzt wegen der zahlreichen konkurrierenden Schulen, die zu einem guten Teil aus ihr selbst hervorgegangen sind. Lohnt sich eine Auseinandersetzung mit diesem altösterreichischen Arzt, Denker und eminenten Schriftsteller überhaupt noch?

Das Wagnis auf sich nehmen

Die Antwort, die der pensionierte Hochschullehrer und praktizierende Analytiker Gerhard Zenaty in einer bestechenden Studie auf diese Frage gibt, ist einfach: Ja! Und diese Auseinandersetzung kann man nur führen, wenn man sich lesend auf Freud einlässt, das Wagnis auf sich nimmt, das Freud auch den Käufern seiner Traumdeutung zugemutet hat: "Nun muß ich aber den Leser bitten, für eine ganze Weile meine Interessen zu den seinigen zu machen ...".

Lesen, so die These Gerhard Zenatys, ist der Psychoanalyse nicht äußerlich, es gehört zu ihrem Kern. Wer liest, ist schon in einen "psychoanalytischen Prozess" eingetreten, verfängt sich unweigerlich in "einem Netz von Abwehr, Widerstand, Identifizierung und Verdrängung". Zenaty schlägt einen "Dialog" mit Freuds Texten vor, an denen er vor allem das Moment des Dynamischen und Widersprüchlichen betont, das die Freud’sche Lehre eher als offenes Unternehmen denn als ein dogmatisches System erscheinen lässt.

Höchst produktiv

Dieser Zugang erweist sich als höchst produktiv. Mit wachsender Spannung verfolgt der Leser die Entfaltung der Psychoanalyse. Zenaty geht im Wesentlichen chronologisch vor, zeigt Freud in der Auseinandersetzung mit seinen Zeitgenossen, verweist auf Parallelen und Differenzen, markiert die entscheidenden originellen Entdeckungen, betont die Wandlungen und Abwandlungen, die diese bei Freud selbst schon erfahren.

Von den frühen Studien über Hysterie über die epochale Traumdeutung und die Entdeckung eines umfassenden Konzepts der Psychosexualität bis zu Freuds eigenen Fallgeschichten, "die sich wie Novellen lesen", seiner Theorie des Narzissmus und seinen kulturtheoretischen Schriften reicht der Bogen, der stets entlang der originalen Texte gespannt wird, klug erläutert und mit einem ausgewogenen Blick auf aktuelle Kontroversen.

Überraschend etwa zu erfahren, wie sehr Freud schon einen fluiden Begriff von Geschlechtlichkeit vertreten hat, allerdings mit der Einschränkung, dass bislang zumindest noch kein Konzept von Sexualität ohne normative Elemente ausgekommen ist.

Erschreckende Aktualität

Zu dieser Ausgewogenheit zählt auch die Intention des Autors, Freuds Versuche, gesellschaftliche und kulturelle Phänomene wie Religion, Kultur oder Krieg zu analysieren, nicht als Zutat, sondern als immanente Konsequenz der psychoanalytischen Aufklärungsarbeit zu begreifen.

Wohl stellt die Psychoanalyse in erster Linie den Versuch dar, "ein einheitliches Deutungs- und Konstruktionsmodell für das normale und krankhafte Seelenleben zu geben", aber die von Freud postulierte "ursächliche Verbindung und Zusammengehörigkeit von Individual- und Kulturgeschichte" ist kein Addendum, kein Beiwerk, sondern ergibt sich aus einigen Grundannahmen der Psychoanalyse selbst. Ohne diese Überlegungen wären etwa auch aktuell vieldiskutierte Konzepte wie die eines kollektiven Gedächtnisses nicht denkbar.

Die "dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich", welche die Psychoanalyse beim "Einzelmenschen" studiert, wiederholen sich, so Freud, auf einer "weiteren Bühne". Auch eine bis heute höchst umstrittene Deutung wie die von Religion als kollektiver Neurose gewinnt aus diesen Annahmen ihren Sinn. Und Freuds Charakterisierung der Psychose als Mischung aus "Größenwahn und Rückzug von der äußeren Welt", Ausdruck einer "narzisstischen Regression", erfährt gerade in diesen Tagen eine erschreckende Aktualität.

Zenatys Arbeit zeichnet sich durch stilistische Eleganz, didaktisches Geschick und profunde Kenntnisse aus. Wer sich seriös mit der Psychoanalyse und ihrem Gründervater auseinandersetzen will, ist mit diesem Buch bestens bedient. Aber auch Kenner der Materie werden immer wieder auf Neues stoßen, auf überraschende Perspektiven und produktive Erklärungsversuche für Ungereimtheiten und Widersprüche, an denen die Psychoanalyse so reich ist.

Sigmund Freud wird in dieser faszinierenden Studie als ein nach der Wahrheit suchender, tastender Autor vorgestellt, bei dem zwischen Person und Werk, zwischen der Lehre und der therapeutischen Praxis, zwischen psychologischen und kulturtheoretischen Ebenen nicht strikt unterschieden werden kann. Dies schlüssig zu zeigen ist kein geringes Verdienst. Mit einem Wort: Diese Re-Lektüre Freuds ist nicht nur zeitgemäß, sie ist ein Gewinn. (Konrad Paul Liessmann, ALBUM, 14.5.2022)