Es gebe keine Geschichte, die so gut ist, dass man dafür riskiert, nicht mehr über sie berichten zu können: ORF-Journalist Karim El-Gawhary.

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Innsbruck – ORF-Journalist Karim El-Gawhary hat mit seiner langjährigen Tätigkeit als Krisen- und Kriegsberichterstatter aus dem arabischen Raum Bekanntheit erlangt. Derzeit liegt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf dem Ukraine-Krieg. El-Gawhary befürchtete bei einem Gespräch im Zuge des Innsbrucker Journalismusfests am Samstag jedoch, dass sich der Fokus wieder erweitern könnte, wenn etwa Nahrungsmittelpreise stark steigen und für Unruhen im Nahen Osten oder Afrika sorgen.

Bei der Berichterstattung über den Krieg im Osten Europas erkannte er "höher gelegte Standards", die sich in guten und auch auf persönliche Schicksale zentrierten Meldungen niederschlagen. "Ich hoffe, dass das dann auch bei Kriegen anderswo so passiert", sagte der Leiter des ORF-Korrespondentenbüros in Kairo. Andernfalls handle es sich um Doppelstandards, welche die Glaubwürdigkeit Europas gefährden könnten.

Lage nach dem Arabischen Frühling

Die Lage für die Bevölkerung habe sich in vielen Ländern seit dem Arabischen Frühling verschlechtert. Ein Viertel der Bewohner der arabischen Welt lebe abseits der Golfstaaten unter der Armutsgrenze. Zähle man jene hinzu, die kurz davor sind, darunter zu rutschen, seien es zwei Drittel, so El-Gawhary. Problematisch sei, dass Diktatoren und Autokraten als "Garanten der Stabilität" von der europäischen Politik wahrgenommen würden. Er wünschte sich ein Umdenken und eine ernsthafte Suche nach Lösungen für die Probleme der Region – andernfalls werde nie Ruhe einkehren, was sich nicht zuletzt auch auf Europa auswirke, mahnte der ORF-Journalist.

Betroffen zeigte er sich über den Tod von Shireen Abu Akleh vom TV-Sender Al-Jazeera. "Es ist immer furchtbar, wenn Kollegen erschossen werden." Sie sei in der arabischen Welt eine Journalistenikone und Vorbild gewesen. El-Gawhary selbst hat im Zuge seiner Berichterstattungstätigkeit schon so manche heikle Situation überstanden, wie er mit mehreren Anekdoten belegte. Einst schossen Kurden auf das Auto, in dem er mit seinem Team saß, weil sie dachten, es handle sich bei ihnen um ein Selbstmordkommando. Ein anderes Mal explodierte eine Autobombe in der Nähe seiner Unterkunft, wodurch die Fenster in die Wohnung gedrückt wurden. Er habe sich zu dem Zeitpunkt glücklicherweise im Badezimmer aufgehalten.

Auf lokale Bevölkerung hören

"Ich bin ein vorsichtiger Mensch und überlege es mir dreimal, bevor ich wo hinfahre", erklärte El-Gawhary, der auch als Nahost-Korrespondent für mehrere deutschsprachige Zeitungen schreibt. Schon mehrmals habe er gesagt, "Stopp, wir fahren hier nicht weiter". Denn schließlich gebe es keine Geschichte, die so gut ist, dass man dafür riskiert, nicht mehr über sie berichten zu können. Wichtig sei bei seiner Arbeit als Kriegs- und Krisenberichterstatter auf die lokale Bevölkerung zu hören und ein sensibles Radar für die Lage zu entwickeln.

Seinen Beruf möchte er trotz teils gefährlicher Situationen "mit nichts tauschen". "Es ist ein unglaubliches Privileg, diese Arbeit machen zu dürfen. Sie bringt einen durch alle sozialen Blasen", so der dreifache Vater. Wichtig sei, die angetroffenen Menschen nicht zu Objekten zu machen, indem man von oben herab über sie berichtet. "Man muss ihnen auf Augenhöhe begegnen, ihnen Gesichter und Namen geben", sagte El-Gawhary.

Von speziellem Interesse seien für den mehrfach ausgezeichneten Journalisten Themen und Gegebenheiten, die kaum in der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen werden. Dabei erlebe er oft starke Ohnmachtsgefühle, sagte der Korrespondent. So geschehen etwa in einem Gespräch mit einer Frau, die auf einem Markt verkauft worden war, anschließend vergewaltigt wurde und zum Zeitpunkt des Gesprächs sich mit einem kleinen Kind durchs Leben schlug. Sie erzählte ihm, jeden Tag über Suizid nachzudenken, es aber aus Rücksicht auf das Kind nicht zu tun. "Was sagst du dann? Vielen Dank für das Gespräch?", fragte sich El-Gawhary. (APA, 15.5.2022)