Im ACV war schon einmal mehr los. An dem Tag, an dem DER STANDARD dort war, kamen exakt vier Erstimpflinge.

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Die riesige Uhr im Wartebereich zeigt kurz nach 13 Uhr an. Mit einem einzigen Erstimpfling habe er heute schon gesprochen, sagt Ferdinand Waldenberger, Laptop, Handy, leere Stühle vor sich. Waldenberger arbeitet beim Samariterbund, er ist einer der Ärzte, die im Austria Center Vienna (ACV), der größten Impfstraße Wiens, Leute beraten, die sich eine Corona-Impfung abholen. Und er hatte schon einmal mehr zu tun.

Im Durchschnitt um die 3000 Corona-Impfungen werden momentan in Österreich am Tag durchgeführt. Die allerwenigsten davon sind Erststiche – und das, obwohl immer noch ein Fünftel der impfbaren Bevölkerung ungeimpft ist. Aber es gibt sie, die Erstimpflinge, mal waren es 174 in den letzten Tagen, mal 19.

Wer sind diese Leute, und was motiviert sie ausgerechnet jetzt? Eineinhalb Jahre nach Start der Corona-Impfungen in Österreich, fast ein Jahr, nachdem wirklich alle die Chance dazu gehabt hätten?

So sah es einst auf den Stufen zum ACV hinauf aus.
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DER STANDARD hat versucht, sie zu finden. Vorweg: Er ist gescheitert. Er ist schon im Jänner gescheitert, als er in einem Artikel dazu aufrief, darüber zu posten, warum man sich momentan erstmals impfen lässt. Er ist gescheitert, als er mehrmals auf Facebook darum bat, sich doch zu melden, gerne auch anonym. Und er ist gescheitert, als er einige Stunden im ACV verbracht und gewartet hatte. Einblicke gab es bei all dem dennoch. Sie zeigen: Da lief einiges schief in den letzten Monaten.

Schluss mit Flughafengefühl

Seit Wochen sei das so, dass kaum mehr jemand kommt, erzählt Waldenberger. "Eigentlich seit der Impfpflicht." Tatsächlich geht die Zahl der Erststiche seit Mitte November konstant zurück – am 19. November verkündete der damalige Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP), dass Österreich als erstes Land Europas eine allgemeine Corona-Impfpflicht bekommen würde. Richtig gekommen ist sie nie. Abgeschreckt hat sie offenbar dennoch.

Von der eindrucksvollen, flughafenähnlichen Impfmaschinerie, die im ACV einst hochgezogen wurde, ist jedenfalls nicht mehr viel übrig. In immer kleinere Hallen zog man um, immer weniger wurden die Kabinen, in denen geimpft wird. Zu Spitzenzeiten waren es 45, nun stehen da sechs Stück. Nur zwei davon sind geöffnet.

Zwischen dem einen und dem nächsten Impfling kommt Thomas Lederle immer wieder aus einem der Container. Er ist im Zivilberuf Intensivpfleger, fünfmal im Monat impft er hier. "In Österreich machen wir halt nur etwas, wenn wir müssen, nicht zur Prävention", sagt er.

Und so sieht es momentan dort aus.
Foto: Robert Newald

Ende der festlichen Kleidung

Die Zeiten, zu denen die Impfung als fast schon etwas Heiliges betrachtet wurde, als der Aufschrei laut war, wenn nur eine einzige Dosis weggeworfen wurde, und als es manchen Medien einen Artikel wert war, dass jemand zur Impfung ein Ballkleid anzieht, sind ganz offensichtlich vorbei.

Ein Blick auf einige der Impflinge an diesem Tag im ACV im Schnelldurchlauf: Da ist ein Kind mit Roller, einige Ältere im Rollstuhl, ein junger Mann mit einem Paket unter dem Arm, eine Frau, die vermutlich gerade vom Sport kommt, ein Paar mit Schirmkappen. "Ich hab alle Impfungen gut vertragen", sagt ein älterer Herr laut, man hört es auch weiter weg. Wer hier ist, ist geübt, das ist klar.

"Das könnte ein Erstimpfling sein", sagt Lederle und zeigt auf einen Mann, der mit Trolley, Sackerl und naturfarbenem Gewand gerade bei den Ärzten und Ärztinnen zum Aufklärungsgespräch steht. Woran man die erkennt? So richtig könne er das nicht erklären, sagt Lederle. Bei dem Mann mit dem Trolly irrte er. Viele seien Reisende, sagt Lederle, auch einige geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer würden nun kommen. Und Lederle erzählt: Er habe Leute getroffen, denen habe man angesehen, dass sie für die Impfung zum allerersten Mal seit Beginn der Pandemie die Wohnung verlassen hatten. Man erkenne sie, weil sie Handschuhe trügen und ängstlich seien, sagt Lederle.

Ferdinand Waldenberger ist einer der Ärzte, die Impflinge beraten. Er hatte schon einmal mehr zu tun.
Foto: Robert Newald

Ich-bin-ich-Menschen

Die meisten kämen aber nicht so spät, weil sie Angst gehabt hätten, sondern weil sie sich eigentlich gar nicht impfen lassen wollten, sagt Arzt Waldenberger. Er sitzt immer wieder recht lang alleine an einem Beratungstisch und hat eine andere Bezeichnung für Erstimpflinge: Einzelkämpfer. "Die sagen, ich kann für mich alleine sorgen", sagt er, und impfen lassen würden sie sich nur widerwillig. Meist, weil sie nun doch auf Urlaub fahren wollen und ausgerechnet in ein Land, das die Impfung vorschreibt.

"Ich-bin-ich-Menschen", nennt Waldenberger sie auch. Er unterrichtet Ethik an der Sigmund-Freud-Uni. Die hätten ihr Konzept von Freiheit aber nicht durchgedacht, findet er. Denn dann dürften sie bei so wenig Solidarität auch die Leistungen des Staates nicht in Anspruch nehmen, wenn es ihnen schlecht geht. An die Wirksamkeit der Impfung würden diese Leute eher nicht glauben. Und dann gebe es noch die, die sauer sind. Und ihren Frust auch hier am Personal ablassen würden. Personal, das übrigens deutlich weniger wird: Einst waren 50 beratende Ärzte und Ärztinnen da, jetzt sind es fünf. Den Schimpfenden sage man dann, dass man kein Politiker sei, sagt Waldenberger.

Das Meisterwerk von Impf-Organisation ist zusammengeschrumpft.
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Apropos Politik. Die feilt gerade an einer neuen Impfkampagne, die im Spätsommer – dann, wenn die Impfung vielleicht wieder für viele überlebensnotwendig wird – motivieren soll. Details dazu will man im Gesundheitsministerium noch nicht verraten, nur so viel: Sie soll nicht von oben herab, sondern von unten nach oben funktionieren. Gespräche dazu würden laufen, Länder, Gemeinden und "gesellschaftliche Teilbereiche" sollen eine Rolle spielen.

Die jüngste Impfkampagne startete im März und hieß #GemeinsamGeimpft. Sie bestand vor allem aus Darstellungen von Alltagssituationen, die im Fernsehen und online ausgestrahlt oder als Inserate in Zeitungen geschaltet wurden. 400.000 Euro habe sie gekostet, heißt es von der gesamtstaatlichen Krisenkoordination Gecko auf Nachfrage. Die Kurve der Impfungen pro Tag, die das Gesundheitsministerium auf einer Website veröffentlicht, machte seither nicht einmal einen Ausreißer nach oben.

Vier Impflinge an einem Tag

Bei Gecko betont man aber, dass man nicht nur Erstlinge zum Impfen motivieren wolle. Es gehe auch um die anderen, um die, die sich jetzt den dritten oder teilweise sogar schon den vierten Stich holen sollen, um gut geschützt zu sein. Im Gecko-Report wird das so formuliert: "Die ansprechbare Gruppe der derzeit noch Ungeimpften ist also sowohl klein, partiell teilimmunisiert durch Genesung und sieht zurzeit wenig Anlass, sich impfen zu lassen. Es ist daher empfohlen, die Impfkommunikation daraufhin auszurichten, den Impfschutz der bereits Geimpften aufrechtzuerhalten." Überspitzt zusammengefasst könnte man sagen: Die anderen hat man aufgegeben.

Kurz nach 16 Uhr zeigt die Digitaluhr im Wartebereich des ACV mittlerweile an. DER STANDARD gibt die Suche nach Erstimpflingen für heute auf. Waldenberger versteht das, er glaube auch nicht, dass da noch jemand komme. Auf die Frage, wie viele Leute sich denn nun im Laufe des Tages zum ersten Mal im ACV impfen lassen haben, schreibt die Pressesprecherin des Samariterbunds später: "Im Endeffekt waren es vier." (Gabriele Scherndl, 23.5.2022)