Was tun, wenn ein einzelner Staat zwei Dutzend andere davon abhält, das zu tun, was sie für notwendig halten? Der Westen steht im Kampf gegen die russische Bedrohung gleich doppelt vor diesem Problem, weil Ungarn das EU-Ölembargo blockiert und die Türkei den Nato-Beitritt von Finnland und Schweden. Schuld daran ist nicht nur der Eigensinn gewisser Autokraten, sondern auch ein Prinzip von Bündnissen, das für viel Frustration sorgt: der Zwang zur Einstimmigkeit. Er verleiht einzelnen Mitgliedern eine Vetomacht, die sie missbrauchen können. In der EU gilt sie nur noch in wenigen Bereichen, sehr wohl aber in der Außen- und Sicherheitspolitik – und bei der Aufnahme neuer Mitglieder. In der Nato ist die Einstimmigkeit noch stärker verankert. Dafür stehen dort nur selten formelle Beschlüsse an, weshalb ein Fall wie der Beitritt zwei neuer Staaten für die Türkei eine wunderbare Gelegenheit ist, die Muskeln spielen zu lassen.

Viktor Orbán blockiert im Alleingang das EU-Ölembargo
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Ob es Ankara eher um die Auslieferung kurdischer Oppositioneller oder die Lieferung moderner US-Waffensysteme geht, ist unklar. Auch beim EU-Ölembargo scheint Ungarns Premier Viktor Orbán mehr zu wollen als nur eine sichere Energieversorgung, nämlich den Druck aus Brüssel wegen seiner Rechtsstaatsverstöße zu senken. Die typische Reaktion der anderen ist eine Mischung aus Empörung und Resignation: Wir wollen uns nicht erpressen lassen! Aber was können wir denn tun?

Mehrheitsprinzip oder staatliche Souveränität

Die Einstimmigkeit abzuschaffen, wie es oft gefordert wird, ist in der Nato illusionär und in der EU bestenfalls ein Langfristprojekt, das daran scheitert, dass Bürgerinnen und Bürger es nicht gerne sehen, wenn die staatliche Souveränität in wichtigen Bereichen eingeschränkt werden soll. Das gilt auch für das neutrale Österreich. Wer das Mehrheitsprinzip in einem Bündnis will, muss akzeptieren, dass die Mehrheit in einem Land überstimmt werden kann.

In sozialen Medien hört man dieser Tage den Vorschlag, man könnte die Blockaden doch umgehen, indem sich die 26 anderen EU-Staaten verpflichten, kein russisches Öl zu kaufen oder 29 Nato-Staaten erklären, dass sie Finnland und Schweden auch vor dem Beitritt bei einem Angriff beistehen werden. Solche außerordentliche Beschlüsse weisen allerdings zwei Schwächen auf: Es fehlt ihnen die institutionelle Kraft der Organisation, die Abweichler an der Stange halten kann. Und sie verstärken die Entfremdung der Blockierer, die ohnehin schon zahlreiche Ressentiments mit sich tragen. Doch die EU braucht Ungarn für viele andere Fragen, und in der Nato bildet die Türkei einen strategischen Eckpfeiler, auf den niemand verzichten will.

Alternativlose Verhandlungen

Außerdem: Los wird man diese unliebsamen Mitglieder ohnehin nicht. Das heißt, es gibt keine Alternative, als ihnen die Zustimmung in harten, zähen Verhandlungen abzuringen.

Damit das gelingt, braucht es die richtige Mischung aus Druck und Anreizen – und einen starken Partner, der beides bieten kann. In der Nato sind das die USA, in der EU könnte höchstens Deutschland diese Rolle übernehmen – und tut das nur zögerlich. In der Union ist es daher völlig üblich, dass Länder ihr Einverständnis von sachfremden Forderungen abhängig machen. Das zieht jeden Entscheidungsprozess in die Länge und untergräbt die Schlagkraft der EU.

Dass am Ende dann doch stets eine Einigung möglich ist, zeugt wiederum von der Vitalität westlicher Bündnisse. (Eric Frey, 19.5.2022)