Es wäre interessant herauszufinden, ob es am Ort liegt – denn erstaunlich viele Bücher, die (mutmaßlich) im Otto-Wagner-Spital auf der Baumgartner Höhe spielen, sind überdurchschnittlich gut. Zugegeben, das ist eine eher privatempirische Feststellung, ohne Kontrollgruppe und mit sehr wenigen Teilnehmerinnen, die vermutlich keiner wissenschaftlichen Prüfung standhielte.

Lena-Marie Biertimpel, "Luftpolster". 22,– Euro / 192 Seiten. Leykam-Verlag, Wien 2022
Cover: Leykam

Aber nach Angela Lehners großartigem Vater unser (2019) ist mit dem Debütroman Luftpolster der 1991 in Hamburg geborenen Sprachkunststudentin Lena-Marie Biertimpel ein zweiter, wirklich herausragender Roman erschienen, der höchstwahrscheinlich auf den Wiener Steinhofgründen spielt. Zumindest befindet sich die Psychiatrie, in die die Icherzählerin sich hier freiwillig einliefern lässt, in Pavillons.

Klinikalltag

Ihre Schwester hat zuvor versucht, sich umzubringen, deshalb die Selbsteinweisung. Die Reaktion auf diese Entscheidung: "sie sind so eine schöne frau, sie sollten aufhören traurig zu sein, sagt der arzt und winkt." Widerwillig lässt sich die Protagonistin auf den streng reglementierten Alltag in der Klinik ein, auf physiotherapeutische Übungen ("das ist ein smovey, sagt die physiotherapeutin, sie nehmen jeweils einen in die hand und beim gehen lassen sie die arme mitschwingen, das verbessert die haltung."), Ergotherapie, geregelte Schlaf- und Essenszeiten und – nicht zu vergessen – die überwachte Tabletteneinnahme.

Zwei Schwestern hat sie, die "eine" und die "andere". Mit den Eltern haben die Schwestern kein schlechtes Verhältnis im klassischen Sinne, und doch wird in den kurzen, oft nur eine halbe Seite langen Abschnitten, in denen Rückblenden ("vor tagen"/ "vor wochen"/ "vor monaten") die tagebuchartigen Berichte aus der Klinik ablösen, immer deutlicher, dass einiges nicht stimmt in dieser Familie.

Die Töchter haben Essstörungen und Magensäureverätzungen an den Stimmbändern. In traumatischen Erinnerungen der Protagonistin tauchen blutverschmierte Pyjamas auf; das Blut rührt nicht von Unfällen her, sondern von massiver, zwanghafter Selbstverletzung. Vieles lässt Biertimpel im Ungewissen, umso mehr Wucht bekommen dadurch die Passagen, in denen es konkreter wird.

Kriegsknochen

Die Mutter erzählt davon, dass ihr Vater sie "pummelchen" nannte, beide Großelternpaare scheinen im Krieg traumatisiert, beim Großvater väterlicherseits zeigt sich das nicht zuletzt in Gewalt gegen seine Kinder: "ich war meister im schnell rennen, sagt mein vater, irgendwann wusste ich schon, bevor er ausgerastet ist, dass es gleich passieren würde. dadurch hat er mich nur manchmal erwischt."

Elegant und ohne viele Worte thematisiert Biertimpel das erst in jüngerer Zeit näher erforschte und nachgewiesene Phänomen der vererbten Traumata: "wir haben kriegsknochen, mit denen müssen wir leben."

Die Familie wohnt "am hafen", die Ich-Erzählerin ist von dort tausende Kilometer regelrecht geflüchtet. In der Stadt am Hafen hat sie nicht nur ihre Familie zurückgelassen, sondern auch Johnny, mit dem sie via Nachrichtenaustausch in Kontakt bleibt.

Er ist ihr eine Stütze, aber auch diese Beziehung ist zum mindesten ambivalent und bietet der Protagonistin kaum die Geborgenheit, die sie so dringend brauchen würde. Keiner der beiden scheint Nähe wirklich zulassen zu können oder zu wollen, sie stoßen sich ab und ziehen sich an zugleich: "vielleicht waren messer unsere worte und küsse fäden, mit denen wir gegenseitig unsere wunden nähten."

Unvermeidlicher Abschied

Sicherheit und aufrichtige Freundschaft findet die Icherzählerin dagegen ausgerechnet in der Klinik: Wie sie dort langsam ihre Abwehr aufgibt und Beziehungen zu ihren Mitpatientinnen, den Therapeuten und Pflegerinnen aufbaut, erzählt Biertimpel in skizzenhaften Szenen, die nicht trotz, sondern gerade wegen der schnoddrigen Erzählstimme so empathisch und präzise sind, dass sie nahegehen.

Man schließt diese in liebevollen kleinen Details beschriebenen Figuren (deren Namen die einzigen Wörter im Text sind, die mit Großbuchstaben beginnen) genauso ins Herz, wie es die Erzählerin am Ende tut. So sehr, dass ihr der unvermeidliche Abschied aus der Klinik regelrecht Todesangst bereitet.

Die Autorin schenkt ihr kein beschönigendes Ende, aber ein zuversichtliches, hoffnungsvolles. Ein solches ist auch dieses Buch, das für ein Debüt sprachlich und formal bemerkenswert durchgearbeitet und souverän ist. Von Lena-Marie Biertimpel wird man hoffentlich noch mehr lesen, und diesem Buch kann man nur viele Leserinnen und Leser wünschen. (Andrea Heinz, ALBUM, 21.5.2022)