Kein Symbolbild.

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"Sind die Zeiten oft auch schwer, weiß ich doch, hier gehör ich her", schallt es vor Anstoß von den Tribünen des Volksparkstadions, und nichts könnte den kollektiven Gemütszustand des Hamburger SV besser beschreiben. Die Zeiten waren zuletzt sehr, sehr schwer, aber man sucht sich sein Fußballteam eben nicht immer aus. Also werden Anlässe wie das Relegationsrückspiel gegen Hertha BSC gewürdigt. Das Hinspiel in Berlin ging mit 1:0 an den HSV, man musste von einer guten Ausgangslage sprechen.

Optimismus

Ha! Eine Falle, es geht immerhin um den HSV. Seine Unfähigkeit wurde in der jüngeren Vergangenheit chronisch, übertraf sogar die des 1. FC Nürnberg, und der hat bitte schön das inoffizielle Vereinsmotto "Der Glubb is a Depp". Mit unerklärlichen Formeinbrüchen im Frühjahr verhinderten die Hamburger den Wiederaufstieg stets souverän, die ersten drei Zweitliga-Saisons endeten jeweils auf Platz vier.

Am Montagabend ist die Stimmung auf dem Weg zum Volksparkstadion trotzdem prächtig, Fußballfans sind bemerkenswert erfahrungsresistente Wesen. Der Mundschutz der Wahl heißt Bierdose, man singt Lieder wie "Zweite Liga, nie mehr wieder" und "Scheiß auf Schule und Arbeit". Nur ein verzweifelt aus seiner HSV-Wäsch' schauender Volksschüler scheint die todernste Lage zu erkennen.

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Vor dem Spiel.
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Die Relegation des Drittletzten der Bundesliga gegen den Dritten der zweiten Liga umweht der Geruch des Ungerechten. Ein für zu leicht befundener Bundesligist trifft auf einen respektablen Fast-Aufsteiger, der die Erstklassigkeit verdient. Sogar die profitierenden Hertha-Fans plakatieren "Relegation abschaffen". Nur einmal in den neun vorherigen Ausgaben hat sich der Zweitligist durchgesetzt, aber diese Hertha, die scheint sogar für den HSV schlagbar. Die Berliner vergaben am Saisonende drei Chancen zum Klassenerhalt, Trainer Felix Magath ist nur mehr im Bereich des Medizinballjonglierens ein Visionär, der von Investor Lars Windhorst ausgerufene "Big City Club" ist längst ein Treppenwitz.

Denkste! Dedryck Boyatas Kopfballtreffer egalisiert das Hinspielergebnis (4.), der HSV hat lange kein Rezept gegen die hoch anpressenden Herthaner. Nach der Pause finden die Gastgeber ins Spiel, aber der HSV ist eben der HSV, und deshalb trägt sich Folgendes zu: Ishak Belfodil tanzt an der Outlinie drei Mann aus und wird gefoult. Alle erwarten eine Freistoßflanke, doch Marvin Plattenhardt übertölpelt Goalie Heuer Fernandes mit einem Kunstschuss ins lange Eck (63.). Wie der HSV sein Umfeld quält, merkt man in diesen Minuten an der Zigarettenfrequenz auf der Pressetribüne.

Die verbliebene halbe Stunde böte sich an, das Narrativ des HSV zu drehen, aus einem Loserverein eine aufstrebende Heldentruppe zu machen. Es passiert: nichts. Opferwille, Intensität, Ausdauer, das ist alles da, aber auf diesem Niveau sticht fehlende Qualität auch die redlichsten Bemühungen. In Minute 96 kassiert Herthas Lucas Tousart für Ballwegschlagen Gelb-Rot und weckt die Menge noch einmal auf: Jetzt irgendwie ein Tor reinnudeln und die Verlängerung böte 30 Minuten Überzahl.

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Nach dem Spiel.
Foto: Reuters/Hilse

Der Ball kommt nicht mehr in den Strafraum. Schiedsrichter Deniz Aytekin pfeift ab und verdammt den HSV zu einem weiteren Jahr Zweitliga-Fußball. Die Hertha hält die Klasse, Altstar Kevin-Prince Boateng hat die Mannschaft mit Felix Magaths Segen richtig aufgestellt. Die erhoffte Auferstehung des Dinos endet immerhin ohne Randale. So analysiert eine Ordnerin beim Abgang aus dem Stadion: "Mit nem 2:0 verkackt, das gibt’s ja nich!" Das dürften auch die ratlos auf dem Feld sitzenden Spieler denken.

Es scheint, als hätte der HSV sein Glück in den 2010er-Jahren aufgebraucht. Jahrelang war der einstige Europapokalsieger die Lachnummer der Bundesliga gewesen, trotz Oberklassenbudget und riesigem Fanpotenzial ein Dauergast im Abstiegskampf. Oft waren andere Teams noch unterirdischer, zweimal musste der Fußballgott in der Relegation intervenieren.

Gegen den Karlsruher SC rettete den HSV ein umstrittener Freistoß in der Nachspielzeit vor dem sicheren Abstieg, gegen Fürth waren es die Auswärtstorregel und ein Treffer von Pierre-Michel Lasogga. Unwahrscheinliche Geschehnisse. 2018 war Schluss: Als letztes Gründungsmitglied der Bundesliga stieg der HSV zum ersten Mal ab. Die legendäre Stadionuhr blieb bei 54 Jahren, 261 Tagen, 00 Stunden, 36 Minuten und 02 Sekunden Ligazugehörigkeit stehen.

SPORT1

Nun, scherzt man, wird es langsam Zeit für eine Zweitliga-Uhr. Jetzt singen Herthas Fans nach dem ersten Jubel: "Nie mehr erste Liga, HSV!" Jetzt dackeln all jene, die vor dem Match noch inbrünstige Chorproben abhielten, still zur S-Bahn-Station, junge Männer mit "Traditionell erstklassig"-T-Shirts und einheitlichen HSV-Fischerhüten entdecken den Flüsterton für sich. Aus dem Nichts bricht noch ein letztes Mal ein Fangesang aus. Die Psyche von Fußballfans lässt sich nur durch die Chaostheorie erklären.

Kurz nach Mitternacht gibt es doch noch was zu feiern. Nach einer guten halben Stunde Stillstand am Bahnhof fährt der Zug, der Hunderte warten ließ, doch noch los. Aber es wäre nicht der HSV, wenn nicht sogar hier eine bittere Pointe käme: Der nachfolgende Zug ist eine S21, Display-Aufschrift: Berliner Tor. (Martin Schauhuber aus Hamburg, 24.5.2022)