Alexander Van der Bellen: "Ich bin trotz aller Anstrengungen des Tages am Abend froh, dass ich zum Wohle unserer Heimat etwas beitragen konnte. Und ich finde, ich kann es ganz gut. Was es braucht, ist Erfahrung, Ruhe in kritischen Situationen und Unabhängigkeit. Das bringe ich mit."

STANDARD/Hendrich

Der Kandidat wartet in einem sonnigen Hinterzimmer des Presseclubs Concordia in der Wiener Innenstadt. Hier und nicht in der wenige Gehminuten entfernten Hofburg empfängt Alexander Van der Bellen am Dienstag, zwei Tage nach der Bekanntgabe seiner Kandidatur für eine zweite Amtszeit, den STANDARD. Denn er hat versprochen, zwischen seinem Amt und der Kandidatur zu trennen, keine Ressourcen der Präsidentschaftskanzlei für den Wahlkampf anzuzapfen. Hund Juli läuft den Eintretenden neugierig, aber doch etwas schüchtern entgegen. Ob man ein Leckerli mithabe, fragt Van der Bellen. Leider nein. Juli lauscht dem Interview trotzdem mit höflicher Zurückhaltung. Kurz vor dem Termin hat der Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) das Ende der Maskenpflicht verkündet.

STANDARD: Werden Sie beim Einkaufen und im Theater weiterhin Maske tragen?

Van der Bellen: Wahrscheinlich schon. Ich begrüße es, dass wir uns jetzt sicherer fühlen können. Aber seien wir uns nicht zu sicher. Niemand weiß, welches Virus in welcher Variante im Herbst wieder auftreten wird. Ich werde sicher nicht sagen, die Pandemie sei vorbei. Ich hatte gerade António Guterres hier, und mit ihm waren alle High Commissioners, Generaldirektoren von Uno-Institutionen, vertreten, 40 bis 50 Menschen, auch der Chef der Weltgesundheitsorganisation. Auch er hat das bestätigt. Wir wissen es einfach noch nicht.

STANDARD: Sie haben Montagabend im ORF damit aufhorchen lassen, dass vieles an den Korruptionsvorwürfen der letzten Jahre auch übertrieben gewesen sei. Wie meinten Sie das? Gibt es in Österreich, besonders in der ÖVP, tatsächlich kein Korruptionsproblem, wie Kanzler Nehammer gesagt hat?

Van der Bellen: Der Untersuchungsausschuss im Parlament macht seine Arbeit. Die Justiz macht ihre Arbeit. Eines Tages werden sie entscheiden müssen, wird das Verfahren eingestellt oder kommt es zu Gericht. Ich bin nicht glücklich darüber, dass manchmal die Auffassung verbreitet wird, Österreich sei insgesamt ein korruptes Land. Das stimmt sicher nicht. Was der Hintergrund Ihrer Frage ist, ist nicht klassische Korruption. Klassische Korruption ist für mich, wenn zum Beispiel ein Beamter für Bauaufträge kassiert, dafür, dass er jemanden begünstigt. Man muss da unterscheiden. Das Sittenbild, das entstanden ist, vor allem durch die Veröffentlichung dieser Chatprotokolle, war in der Tat bedrückend.

STANDARD: Haben Sie rückblickend auch irgendwo ein schlechtes Gewissen?

Van der Bellen: Natürlich fragt man sich im Nachhinein, was man anders gemacht hätte. Allen recht machen kann man es sowieso nie. Auch Journalisten nicht, nebenbei gesagt. Aber ein schlechtes Gewissen? Ich finde, gerade bei den 2019er-Ereignissen, wo zum Teil mehrere Dinge zum ersten Mal in der Geschichte eingetreten sind, habe ich ein sehr reines Gewissen. Und ich glaube, das hat wesentlich dazu beigetragen, dass niemand mehr in Österreich bezweifelt, dass es das Amt des Bundespräsidenten braucht. Das war über viele Jahre ja durchaus umstritten.

STANDARD: 2019 haben Sie vor einer Entfremdung von Putin gewarnt. Rückblickend waren auch Sie zu spät dran, Putin kritisch zu sehen. Es gab schon lange Menschenrechtsverletzungen in Russland, und die Annexion der Krim war da schon fünf Jahre her.

Van der Bellen: Zumindest in Europa hat niemand damit gerechnet, dass Putin einen militärischen Angriff auf die gesamte Ukraine startet. Auch ich habe das für Drohgebärden gehalten. Ich habe absolut nicht damit gerechnet, dass es zu einem echten, ausgewachsenen, furchtbaren Krieg kommt, das gebe ich zu. Ich habe mich geirrt. Im Nachhinein muss ich sagen, man hätte stärker die Äußerungen Putins studieren müssen. Herr Putin denkt in Kategorien des 19. Jahrhunderts. Sein Großrussland besteht aus verschiedenen Gebieten, die seit Katharina der Großen zu Russland gehören. Putin hat vollkommen übersehen, wie sich das Selbstbewusstsein der Ukrainer verändert hat, dass dort ein Nationalgefühl entstanden ist, völlig unabhängig von der Muttersprache, ob jetzt Russisch oder Ukrainisch.

STANDARD: Würden Sie, gesetzt den Fall, der Krieg wäre vorbei und Putin immer noch Präsident, ihn noch einmal als Staatsgast empfangen?

Van der Bellen: Schwer zu sagen. Das hängt davon ab, wann der Krieg zu Ende ist, ob es zu einem verlässlichen Frieden kommt. Wir können die ausländischen Staatsoberhäupter nicht aussuchen, aber wir können uns aussuchen, wen wir einladen und wen nicht. Das muss gründlich bedacht werden vom Bundespräsidenten, im Einvernehmen mit dem Außenminister und dem Bundeskanzler.

STANDARD: Also kein klares Nein von Ihnen?

Van der Bellen: Im Leben habe ich schon so viele Überraschungen erlebt, dass ich jetzt auch einen günstigen Verlauf des Krieges nicht von Haus aus ausschließen möchte. Mit günstig meine ich, dass er rasch zu einem Ende kommt und zu einem stabilen Frieden führt. Ich gebe aber zu, derzeit deutet nichts darauf hin.

STANDARD: Finden Sie als Oberbefehlshaber unseres Bundesheeres, dass es tatsächlich eine Budgeterhöhung für das Bundesheer auf 1,5 Prozent des BIP braucht?

Van der Bellen: Seit meinem Amtsantritt als Bundespräsident habe ich regelmäßig darauf hingewiesen, dass es mit dem Bundesheer nicht so weitergehen kann. Dass wir da einen riesigen Investitionsstau haben. Das Neutralitätsgesetz verpflichtet uns nicht nur, keinem Militärpakt beizutreten und keine fremde Armeen im Land zuzulassen, sondern auch zur umfassenden Landesverteidigung. Das kann nur heißen, das Budget des Bundesheeres entsprechend zu erhöhen. Doch nicht nur das Bundesheer ist ausgehungert worden, auch die Außenpolitik, die Diplomatie muss ausgebaut werden. Wir haben Botschafter, die für fünf bis sieben Länder auf einem Kontinent zuständig sind, wie soll das gehen?

STANDARD: Wie wichtig ist Ihnen unsere Neutralität?

Van der Bellen: Wir können zu Recht stolz auf sie sein. Das sage ich als Vertreter einer Generation, die Staatsvertrag, Neutralitätsgesetz und den Abzug der Besatzungstruppen erlebt hat. Die Neutralität hat uns in den vergangenen Jahrzehnten gute Dienste geleistet. Ich bin gerne bereit, darüber zu diskutieren. Aber man sollte sich nicht aus dem Augenblick heraus bemüßigt fühlen, alles für wertlos zu halten.

STANDARD: Wie stehen Sie zu einem Nato-Beitritt?

Van der Bellen: Warum sollte jedes Land der Welt Mitglied eines Militärpakts sein? Denken wir nicht immer so bellizistisch, denken wir auch an die Zeit danach.

STANDARD: Ein offener Brief an Sie thematisiert Österreichs Sicherheitspolitik und fordert Sie auf, eine Expertengruppe zu definieren, um die Neutralität zu diskutieren.

Van der Bellen: Ich weiß nicht, ob ich der Richtige bin, so ein Gremium einzusetzen. Generalmajor Thomas Starlinger hat bereits als Verteidigungsminister der Übergangsregierung ein umfassendes Bedrohungsszenario vorgelegt, das Cyberangriffe, Blackouts und Ähnliches umfasst. Ich bin aber gerne bereit, an so einer Runde teilzunehmen.

STANDARD: Sie haben gesagt, dass Sie dem Volk dienen wollen. Dieses leidet unter der Teuerung. Wie können Sie in Ihrer Rolle dieses Leid lindern?

Van der Bellen: Derzeit sieht es so aus, dass diese Krise nicht von selbst vorbeigeht. Ich habe Grund anzunehmen, dass wir uns einer Stagflation nähern, das heißt einem Stagnieren des Wirtschaftswachstums, wenn nicht sogar einem negativen Wachstum, zusammen mit Preissteigerungen. Ich appelliere an die zuständigen Minister: Bitte vergessen Sie nicht, es gibt sehr viele Leute in Österreich, die jetzt schon Schwierigkeiten haben, finanziell über die Runden zu kommen. Monatlich. Die dürfen wir auf keinen Fall alleinlassen. Das sind etwa Alleinerzieherinnen, Bezieher von Mindestpensionen, ganz verschiedene Gruppen, jung und alt, die hier betroffen sind. Diese Menschen dürfen wir nicht aus den Augen verlieren.

STANDARD: Sie könnten jetzt im Kaunertal auf dem Gachen Blick mit Ihrem Hund spazieren gehen. Wer hat Sie denn überredet, dass Sie sich das noch einmal antun sollen?

Van der Bellen: Ich habe mich selbst nicht überredet, sondern ich habe gefunden: Ja. Es freut mich. Es hält einen jung. Ich bin trotz aller Anstrengungen des Tages am Abend froh, dass ich zum Wohle unserer Heimat etwas beitragen konnte. Und ich finde, ich kann es ganz gut. Was es braucht, ist Erfahrung, Ruhe in kritischen Situationen und Unabhängigkeit. Das bringe ich mit. Ich freue mich über jede Stimme, die ich im Herbst bekomme. Und zur Einschränkung – wenn Sie so wollen – des Privatlebens sage ich: Es ist eben so. (Colette M. Schmidt, Rainer Schüller, Antonia Rauth, 24.5.2022)