Im Juni 2022 wäre Elfriede Gerstl 90 Jahre alt geworden. Inzwischen liegt ihr Werk als Gesamtausgabe vor und ermöglicht den genauen Blick auf eine Existenz unter prekären Bedingungen. Im Gedicht Kleiderflug oderlost clothes vollzieht Gerstl eine klarsichtige Analyse dieser Voraussetzungen.

Ihre Zweifel, ob die Kunst tatsächlich außerhalb der Gesetze der Marktwirtschaft operieren könne, spiegeln einen Literaturbetrieb wider, der sich ab den 90er-Jahren zu einem beschleunigten globalen Markt entwickelte, wie Carolin Amlinger in der Untersuchung Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit (Suhrkamp) ausführt: "Die ambitionierten literarischen Reihen, einst Ort der kritischen Intervention, verkauften sich nicht mehr. Verlage, oft unter dem Dach eines multimedialen Konzerns, standen unter Rationalisierungsdruck. Sie mussten zuvorderst ökonomische Erfolge erzielen, literarische Ambitionen standen hintan." Wer es also bis dorthin nicht geschafft hatte, sich als großer Name mit entsprechenden Verkaufszahlen durchzusetzen, wurde von Verlagen ausgemustert.

Kämpfte ein Leben lang dagegen, als Opfer des Nationalsozialismus gesehen zu werden: Elfriede Gerstl (1932–2009) in einem "ihrer" Wiener Kaffeehäuser.
Foto: Corn

Die Untersuchung des Systems Mode unterstützt die Autorin im Gedicht Kleiderflug bei ihrer Befragung des Systems Literatur. Auch Wohnen, das Finden von Räumen zum Arbeiten und zur Unterbringung ihrer Sammlung nimmt dabei viel Raum ein. Da die Autorin in früheren Jahren viel unterwegs war und in Provisorien lebte, sammelte sich nichts Bleibendes. Wer keinen brauchbaren Raum zum Wohnen hat, bewegt sich viel in öffentlichen Räumen wie z. B. auf der Straße und im Kaffeehaus. "substituiertes wohnen", wie Gerstl es bezeichnet, steht anstelle des Wohnens. Nicht ohne Grund, da etymologisch Eigentum und die Beherrschung eines Ortes nahe beieinanderliegen, wie die Philosophin Donatella di Cesare schreibt: "Besitzen, verbleiben, sich ansiedeln, sich niederlassen, sich zu eigen machen, sich identifizieren, an sich binden, sich binden – auf all das wird für gewöhnlich das Wohnen zurückgeführt (…)." (Donatella di Cesare: Philosophie der Migration, Matthes & Seitz, 2021).

Der Wechsel von Wohnorten hatte sich Gerstl von Kind auf eingeprägt. Die frühe Scheidung der Mutter, dann das Verstecken in verschiedenen Wohnungen während der Zeit des Nationalsozialismus. Sie folgt diesem Muster mit ihrem Pendeln zwischen Wien und Berlin, später zwischen Straße, Bar, Kaffeehaus, Wohnraum und Lager. Arbeiten ist nur mehr in Bewegung vorstellbar. Sie kann sich nicht an nur einen Ort gewöhnen, nicht nur an ein Kleid, an eine literarische Form.

Ihre "Firma" Wiener Gruppe

Dies unterscheidet sie von den Sesshaften, stets bei sich und an einem Ort Bleibenden. Nur die Migrierenden wissen von verschiedenen Orten. Den Sesshaften scheint ihr einziger Aufenthaltsort als Nabel der Welt. Zugehörigkeit liegt deshalb auch in einem Leben ohne Bruch begründet, über das migrierende Menschen nicht verfügen. So fand Gerstl auch ästhetisch keinen Zugang zum Berliner Künstlerkreis, so blieb sie in der "Firma" Wiener Gruppe, wie sie schreibt, Außenseiterin. Als sie 1978 endlich ihre erste eigene Wohnung in der Kleeblattgasse bezieht, bewegt sie sich ab da vorwiegend durch den ersten Bezirk, kennt alle Lokale, die sich darin bewegenden Gäste, betreibt eine Art Scheinansässigkeit. Dass sie nicht zu Hause bleiben will, ist vielleicht ein Echo auf das Eingesperrtsein als jüdisches Mädchen.

Die gesammelten schönen Kleider sind so Ersatz für ein Leben in Wohlstand und Ruhe, mit Muße und Absicherung, das frühere Trägerinnen vielleicht führten, zumindest kann die Autorin sich das vorstellen, ihre Fantasie durch Muster und Materialien anregen lassen. Vielleicht sogar eine kleine Genugtuung genießen. Denn wenn die Sammlerin die abgelegten Hüllen der an einem Ort Gebliebenen erwirbt und sich damit umgibt, sind die Körper, die sie einmal trugen, meist verstorben. Was in letzter Konsequenz bedeutet, dass auch Besitz nicht gegen den Tod hilft. So könnte das Sammeln genauso eine Feier ihres Entkommens bedeuten, eines Überlebens zum Trotz.

Ihre Wohnung ist "klein" und "zugehängt" mit "Schützlingen", wie sie die gesammelten Kleider nun personalisiert. Die Wand bietet Schutz, darüber hängen die Schützlinge, die gleichzeitig selbst geschützt werden und die Besitzerin schützen. Sie werden als "lieb" bezeichnet, eine stark affektive Beziehung, da das Gewand sogar die Bücherwand verdecken darf. Das Wort ABLAGERUNGEN taucht im Gedicht auf, in Großbuchstaben. Kein anderer Ausdruck wird derart herausgehoben, als wäre er die Essenz alles Gesagten und Gelebten. Das Wort Lager steckt darin. Außerdem verweist es auf den Faktor Zeit. In der Geologie bezeichnet der Ausdruck Sediment, Bodensatz. Etwas, das (unten) bleibt.

Im Gedicht folgt ein poetologischer Einschub, in Klammern. Als würde Gerstl einer Kritik des bislang Gesagten entgegnen: "reihenfolge wieso reihenfolge", und klärt, was ABLAGERUNGEN bedeuten. Es sind subjektive Schichtungen in ihrem Gedächtnis, Zeitschichten, die anderen Ordnungsprinzipien folgen als der Chronologie: "zeige her was mir gerade einfällt." Sie hält sich nicht an vorgegebene Regeln. Zeigen ist auch ein Gegensatz zu verstecken. Möglicherweise antwortet sie damit auch einem (inneren) Einwand zur Selbstentblößung, einem Tabu der Ästhetik der Avantgarde.

Grammatikalisch hält sich Gerstl weitgehend an die Vermeidung des "Ich" im Gedicht Kleiderflug. Dennoch bildet ihr Leben das Material dieser Reflexionen über Bedingungen der Produktion von Kunst, das genauso wie alle anderen Metiers einem Effizienzdenken und der Selbstausbeutung unterworfen ist: "muss künstler immer im dienst sein / wunschtraum des unternehmers auf sich anwenden?/ keine musse?"

Zuwendung zu Kleidern

Ihre Zuwendung zu Kleidern versteht die Autorin einerseits als Abwendung vom Ernst der Spracharbeit. Andererseits kippt auch dieses lustvolle Tun in eine mögliche Verwertbarkeit. Der Kapitalismus verleibt sich alles ein, auch die Freude und die Lust: "alles vermarktbare wird vermarktet und arbeitsverseucht." Die Devise des Neoliberalismus lautet, dass jeder ununterbrochen das Beste aus sich herausholen soll. Im Ausdruck "selbstausbeuteln" wird Gerstls Humor deutlich; der Beutel wird geschüttelt, damit noch die allerletzten Krümel nutzbar werden. Kein Lebensrest soll dem Subjekt für sich selbst verbleiben.

Was ihr Einkommen betrifft, so ist die Dichterin genauso dem Markt unterworfen wie alle anderen. Ohne Geld ist sie nichts, kann sie nicht teilhaben. Hat man aber genügend Geld, gewinnt man genügend Freunde, egal wo man sich befindet. Je mehr Geld, desto eher wird man in die Mehrheitsgesellschaft aufgenommen. Auf die Frage: "sind denn einheimische arme einander solidarisch?", folgt eine abschlägige Antwort: "alltag ist wadlbeissen". Statt auf Solidarität hoffen zu können, behindert man sich gegenseitig. Sie erinnert sich ans Ausländerinsein, ihre Probleme in Berlin, ein Untermietzimmer zu bekommen, obwohl sie sich seriös kleidete.

Ist ihr Lebensthema, nirgends einen Ort zu finden, nirgends wirklich anzukommen? Gerstls Erklärung dafür lautet im Gedicht: Geldmangel. Aber vielleicht ist es mehr als das. Ein Gefühlskostüm, das sich in der Kindheit einprägte und nie verflüchtigt, ein tief empfundenes Ausgestoßen- und Eingesperrtsein. Trotzdem hat Gerstl ihr Leben lang dagegen gekämpft, als Opfer des Nationalsozialismus gesehen zu werden. Wenn schon Opfer, dann Opfer des Kapitalismus und der Nichtwertschätzung kreativer Arbeit. Denn: Geld ist die Eintrittskarte, mit Geld wird nicht an Zugehörigkeit gezweifelt. Geld bringt Anerkennung. Dann sind Aussehen und Habitus nicht mehr wichtig. So die Hoffnung. (Sabine Scholl, 30.5.2022)