In einem glänzenden Buch hat kürzlich Norbert Röttgen, der CDU-Außenpolitiker – und zweimal gescheiterter Kandidat für den Parteivorsitz –, die Mitverantwortung und das Versagen des Westens durch anhaltende Naivität, Unentschlossenheit und Inkonsequenz gegenüber der aggressiven russischen Außenpolitik kritisiert (Nie wieder hilflos! Ein Manifest in Zeiten des Krieges, DTV-Verlag).

Diese Haltung, vor allem in Deutschland, habe Wladimir Putin in seinem Glauben bestärkt, ein Angriffskrieg bliebe für ihn ohne ernstzunehmende Konsequenzen. Von Kanzler Olaf Scholz und Francis Fukuyama (dem Autor der berühmten Fehldiagnose Das Ende der Geschichte, 1989) hört man: "Russland wird diesen Krieg verlieren." Die Meldungen von den Schlachtfeldern im Donbass und die fast verzweifelten Hilferufe der ukrainischen Regierung zeigen eine andere Realität als Folge der großangelegten russischen Offensive.

Die Entschlossenheit und die Widerstandskraft der um das nationale Überleben kämpfenden Ukrainer ist ungebrochen.
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Die wortreichen Solidaritätserklärungen der prominenten westlichen Polittouristen in Kiew sind kein Ersatz für die so dringend gebrauchten schweren Waffensysteme. Man soll die Tatsache nicht beschönigen, dass die EU-Staaten zu wenig für die Ukraine getan haben. Die USA haben mehr finanzielle Unterstützung gewährt als alle europäischen Staaten zusammen. Der US-Kongress hat soeben ein weiteres Hilfspaket von 40 Milliarden US-Dollar für die Ukraine bewilligt, wovon die Hälfte für Kriegsgerät bestimmt ist.

Indessen wird die vielgepriesene Einigkeit des Westens brüchig. In der EU glänzt wieder Putin-Freund Viktor Orbán mit seiner Erpressungstaktik zur Behinderung der Sanktionen, und in der Nato blockiert ein anderer Erpresser – Recep Tayyip Erdoğan – die Aufnahme von Finnland und Schweden in das Verteidigungsbündnis.

Sicherheit vor Russland

Zugleich rückt die Inflation immer mehr in den Vordergrund. Die rapiden Preissteigerungen und die Angst vor der Energiekrise prägen nicht nur in Österreich die Ergebnisse der Meinungsumfragen. Die Kriegsmüdigkeit bei den nicht unmittelbar Betroffenen wächst, und die bisher so beeindruckende Offenheit gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen könnte allmählich verschwinden.

Deshalb wollen die von der russischen Aggression direkt bedrohten baltischen Staaten und Polen den Fokus immer wieder auf den Krieg richten. Die Entschlossenheit und die Widerstandskraft der um das nationale Überleben kämpfenden Ukrainer ist ungebrochen. Nur die maximale militärische Unterstützung für die angegriffene Ukraine und die Erhöhung der Kosten eines Zermürbungskriegs für Russland könnten die Einwilligung Putins zu einem Waffenstillstand und ernsthaften Verhandlungen erzwingen.

Die seit drei Jahrzehnten geltende magische Formel, Sicherheit sei nur mit Russland möglich, habe sich in ihr Gegenteil verkehrt. Sicherheit vor Russland sei jetzt die Maxime, betont Norben Röttgen zu Recht. Je mehr Land Russland erobert, umso wahrscheinlicher wird ein neuer Feldzug gegen die Nachbarländer. Je entschlossener der Westen sich hinter die Ukraine stellt, desto mehr erhöht er die Chancen für beide Seiten, eine erträgliche Einigung ohne die sogar für den Weltfrieden brandgefährliche Gefährdung der Macht des Diktators zu finden. (Paul Lendvai, 31.5.2022)