Die Autorin Rachel Cusk beobachtet die Welt wie eine Bühne, um daraus Schlüsse zu ziehen. Auch den englischen Strand und seine Besucher.

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"Die Geschichte muss der Wahrheit gehorchen und sie sichtbar machen wie Kleidung einen Körper", schreibt Rachel Cusk. Das war schon in ihrer autofiktionalen Outline-Trilogie, mit der sie in den vergangenen Jahren auch im deutschsprachigen Raum bekannt geworden ist, der Fall. Der britischen Autorin gelingt solche Kenntlichmachung aber ebenso mit ihren Essays. Kleine Alltagsbeobachtungskunstwerke legt sie im Band Coventry (im englischen Original 2019) vor. Schmal ist er nicht, weil Cusk wenig zu sagen hätte, sondern weil sie dafür nicht viele Worte braucht. Ob es um Rollenbilder in der Ehe geht oder den Blick auf die Töchter: Diese Texte zeichnet Klarheit bis hin zu klirrender Kälte aus.

Boshaft sind sie dennoch nie, sondern stets interessiert: Wenn Cusk über den Autoverkehr in "unserer ländlichen Gegend" – sie wohnt irgendwo an der englischen Küste – nachdenkt, fühlt sie erst der Hemmungslosigkeit von Menschen im Urlaub auf den Zahn, vergleicht dann theatralische Blinker und Huper mit Schauspielern und biegt schließlich zu einem einige Jahre zurückliegenden Unfall ab. Damals habe eine 94-Jährige ein Mädchen totgefahren. Würde sich die Frau wünschen, vor dem Zwischenfall gestorben zu sein, überlegt Cusk nun – hat sie doch damit ihrem bis dahin womöglich glücklichen Leben spät eine tragische Wendung gegeben. Wobei gewiss auch die Behörden Schuld an dem Unfall hätten, indem sie jemandem in dem Alter noch hinters Steuer lassen. Andererseits sei man in jener Gegend für alltägliche Verrichtungen aufs Auto angewiesen. "Wer hier kein Auto hat, wird zum Opfer der Umstände."

Cusk dreht und wendet das Problemfeld. Auf die Luftverpestung durch den Verkehr anspielende Sätze wie "Vielleicht ist der zunehmende Luxus im Inneren des Autos der Trostpreis für den Verfall der Welt draußen" sind analytisch nüchtern und zugleich von einer famos flapsigen Melodramatik. Es ist ein Spaß, die immer originellen Beobachtungen wie Gegenverkehr auf sich zukommen zu sehen. Mit Gegnern hat Cusk, die nach dem Buch Danach über Ehe und Trennung als meistgehasste Frau Großbritanniens tituliert wurde, übrigens kein Problem.

Theorie und Praxis

Auch nicht mehr damit, wenn ihre Eltern sie mit Schweigen strafen. Auf eine englische Redewendung dafür rekurriert der Titel des Bandes: "Jemanden nach Coventry zu schicken erfordert viel Geduld und ist kein Spiel für Menschen, die sofortige Befriedigung brauchen." Indem sie sie seziert, überführt Cusk sämtliche praktischen Probleme ihres Lebens in theoretische. Dann lässt sich auch über sie lachen. "Am Ende gab es nichts mehr zu zerlegen außer den Kindern, was einen naturwissenschaftlichen Eingriff erfordert hätte", scherzt sie über ihre Scheidung. Über Touristenpaare in ihrem Ort, "die schweigend vor riesigen Tellern Fish and Chips sitzen", bemerkt die 55-jährige Autorin scharf, sie trügen "genauso zum Lokalkolorit bei wie die Robbenkolonie draußen auf den Sandbänken".

Sie führen aber auch dazu, dass Cusk über die Leerstelle nachdenkt, die flügge gewordene Kinder hinterlassen. Apropos: Welche Beziehung hätte sie zu ihren eigenen entwickeln müssen, hätte sie diese, als sie klein waren, nicht dank ihrer körperlichen Überlegenheit gegen deren Willen einfach festhalten können? Eine freundschaftlichere?

Treibstoff dieser nüchtern-eleganten Prosa ist die Erfahrung. Dass ihr solche von Krieg oder Hunger fehle, ist Cusk klar. Sie sei "noch nie auf die Probe gestellt" worden, könne daher nicht wissen, ob sie eigentlich "mutig oder feige, selbstlos oder eigennützig, rechtschaffen oder verführbar" sei. Als "Orientierungshilfe" könne Höflichkeit aber nicht schaden. Diese Lektüre auch nicht. (Michael Wurmitzer, 31.5.2022)