Ungarn forderte Garantien im Fall einer Ölblockade. Einwände gegen ein Embargo kamen auch von der Slowakei und Tschechien. Letztlich gab es dennoch einen Deal.

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EU-Ratspräsident Charles Michel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigten sich bei einer Pressekonferenz nach dem ersten Gipfeltag erleichtert über die Einigung.

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Die EU hat sich auf ein sechstes Sanktionspaket einschließlich des seit Wochen umstrittenen Ölembargos gegen Russland verständigt. Dies teilte EU-Ratspräsident Charles Michel am späten Montagabend nach Beratungen beim EU-Sondergipfel in Brüssel auf Twitter mit. "Einigkeit. Einigung auf ein Verbot des Exports von russischem Öl in die EU", schrieb Michel. Das Embargo betreffe sofort mehr als zwei Drittel aller Ölimporte aus Russland.

Michel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigten sich bei einer Pressekonferenz nach dem ersten Gipfeltag erleichtert. "Wir haben einige Wochen gebraucht, um diese Entscheidung zu erzielen, und es gab schon Spekulationen, dass es uns an Einigkeit mangelt", räumte Michel ein. "Wir brauchen politische Führungsstärke in diesen außerordentlichen Zeiten."

Mit dem Beschluss verliere Russland eine "riesige Finanzquelle für seine Kriegsmaschinerie", betonte Michel. Tatsächlich geben die EU-Staaten nach Expertenberechnungen jeden Tag hunderte Millionen Euro für russisches Öl aus. Man übe "maximalen Druck" auf Russland aus, "den Krieg zu beenden".

Ausnahme für Pipeline-Öl

Michel sagte, dass die politische Einigung bereits am Donnerstag von den EU-Botschaftern in Rechtsform gegossen werden solle. Er verteidigte zugleich die Ausnahme für Pipeline-Öl. Es gehe nämlich darum, auch die Interessen von Binnenstaaten wie Ungarn zu schützen. Von der Leyen sagte, dass der Embargobeschluss die russischen Ölimporte bis Jahresende um 90 Prozent reduzieren werde. Sie verwies darauf, dass Deutschland und Polen freiwillig auf Pipeline-Öl verzichten wollen. Damit blieben nur noch Importe im Umfang von zehn bis elf Prozent, die über die russische Druschba-Pipeline nach Ungarn liefen. Österreich hat sich eigenen Angaben zufolge schon im März gänzlich von russischen Ölimporten verabschiedet.

Von der Leyen trat auf eine Journalistenfrage Spekulationen entgegen, dass Budapest jetzt noch jahrelang am russischen Öltropf hängen könne. Der kroatische Ministerpräsident Andrej Plenković habe beim Gipfel berichtet, dass durch einen Ausbau einer kroatischen Pipeline von der Adria auch Ungarn versorgt werden könne. Die entsprechenden Anpassungen würden nur "45 bis 60 Tage" dauern. "Ungarn kann sich wirklich von russischem Öl entkoppeln", betonte sie. Zugleich verwies sie auf einen Passus in den Gipfelschlussfolgerungen, wonach sich der Europäische Rat "so schnell wie möglich" wieder mit der "vorübergehenden Ausnahme" für russisches Pipeline-Öl befassen solle.

Weitere Sanktionen und mehr Geld für Ukraine

Teil des Sanktionspakets ist auch der Ausschluss der staatlichen russischen Sberbank aus dem Bankenkommunikationssystem Swift. Von der Leyen wertete diesen Beschluss als bedeutend, da die Bank einen Marktanteil von 35 Prozent habe. Wichtig sei auch das Verbot von drei weiteren russischen Staatssendern, die Desinformation betrieben.

Von der Leyen und Michel gaben zudem eine Geldspritze in Höhe von neun Milliarden Euro für Kiew bekannt, damit Pensionen, Löhne und grundlegende staatliche Dienstleistungen finanziert werden können. Außerdem wolle man gemeinsam mit Partnern eine Plattform für den Wiederaufbau der Ukraine ins Leben rufen. Dabei sei aber "klar, dass die Investitionen an Reformen geknüpft sind", forderte die Kommissionspräsidentin weitere Bemühungen Kiews im Kampf gegen die Korruption.

Von der Leyen berichtete, dass die EU-Chefs am ersten Gipfeltag auch mit Beratungen über die künftige Energieversorgung Europas begonnen haben. Diese Gespräche sollen am Dienstag fortgesetzt werden. Dabei geht es auch um die vorübergehende Einführung von Preisobergrenzen, die unter anderem von Österreich unterstützt wird.

Während sich Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) nach dem ersten Gipfeltag nicht äußerte, begrüßte sein deutscher Kollege Olaf Scholz die Einigung. "Die EU ist sich einig", schrieb der SPD-Politiker auf Twitter. "Wir haben uns auf weitere einschneidende Sanktionen gegen Russland verständigt." Das Embargo werde einen Großteil der russischen Ölimporte betreffen.

Ungarn fordert Garantien

Der Durchbruch kam überraschend, nachdem die EU-Chefs zum Gipfelauftakt noch ihren Dissens bekräftigt hatten. So positionierte sich der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán gegen einen im Vorfeld präsentierten Kompromissvorschlag, der die Lieferung von russischem Öl über Pipelines weiter erlaubt hätte. Orbán begrüßte zwar die Pipeline-Ausnahme, forderte aber zusätzliche Garantien und erhielt dafür auch die Unterstützung von Nehammer, der Verständnis für die "Sorgen" des Nachbarlands äußerte und auf die ähnlich starke Abhängigkeit Österreichs von russischem Gas verwies.

Nehammer äußerte sich vor Gipfelbeginn trotzdem zuversichtlich, dass es eine Einigung geben könnte. Die Erfahrungen mit EU-Ratstreffen der vergangenen Monate habe ihn "gelehrt, dass eine hohe Lösungsbereitschaft gegeben" ist. "Ich gehe davon aus, dass es zu einer Lösung kommen wird", sagte der Kanzler.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach beim EU-Gipfel.
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Botschaft von Selenskyj

Zu Beginn des Gipfels richtete sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj an die EU-Chefs. In seiner knapp zehnminütigen Botschaft mahnte er die Union zur Einigkeit und einem raschen Beschluss des sechsten Sanktionspakets. "Es ist Zeit für Sie, nicht einzeln zu handeln, sondern gemeinsam", meinte Selenskyj. "Warum hängen Sie von Russland ab und vom russischen Druck, und warum ist das nicht umgekehrt", so der ukrainische Präsident in Anspielung auf die Abhängigkeit der europäischen Staaten von russischen Gas- und Öllieferungen.

Orbán sagte, Ungarn brauche Garantien für den Fall, dass die Pipeline blockiert werde. Er spielte damit auf einen möglichen Stopp russischer Öllieferungen an, bei dem der Binnenstaat Ungarn schnell auf dem Trockenen säße. Der EU-Kommission warf er "unverantwortliches Verhalten" vor: "Zuerst brauchen wir Lösungen, dann Sanktionen." Ähnlich äußerte sich Nehammer, der in Anspielung auf die AKW-Staaten monierte, dass zwar viel über ein Öl- und Gasembargo diskutiert werde, aber nicht auch über ein Uranembargo. Auch sein tschechischer Kollege Petr Fiala forderte mehr Rücksichtnahme auf die Sorgen einzelner Staaten. Dagegen bekräftigten Deutschland und Polen vor dem Gipfel ihren Willen, bis zum Ende des Jahres einen Importstopp für russisches Öl zu verhängen. (APA, 30.5.2022)