Es ist das herausgekommen, was man erwarten, ja, befürchten musste: Die 27 EU-Staaten haben in der Nacht auf Dienstag einen Minimalkompromiss für ein Ölembargo gegen Russland wegen dessen Angriffs auf die Ukraine erzielt. Was ein weiterer harter Faustschlag gegen Moskau sein sollte, wurde eher zur Ohrfeige und dürfte dort zwar schon für Schmerzen, vor allem aber für grimmige Zufriedenheit sorgen.

Zwar sind von dem nun auf den Weg gebrachten sechsten Sanktionspaket fast drei Viertel der russischen Ölexperte in die EU betroffen; doch der Rest – jener, der nicht über Häfen, sondern durch Pipelines nach Westen geschickt wird – wird auch weiterhin fließen.

Viktor Orbán: Störenfried oder bloß Pragmatiker?
Foto: AP Photo/Olivier Matthys

Grimmig wird man also in Moskau den Ausfall eines erheblichen Exportanteils beim Erdöl zur Kenntnis nehmen. Zufrieden sein wird der Kreml allerdings auch: Denn – und darauf kommt es eigentlich noch viel mehr an – die EU hat sich mit diesem Minimalkompromiss in eindeutiger Weise selbst vorgeführt, sich selbst gedemütigt und sich selbst politisch geschadet. Es reichte das Beharren eines einzigen Mitgliedsstaats, in diesem Fall Ungarns, um ein politisches Konzept, das 27 andere Länder mitgetragen hätten, zu verhindern.

Orbán, der Böse?

Es wäre naheliegend und leicht, dem habituellen Störenfried im europäischen Orchester, dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, wegen dessen Veto die ganze Schuld an diesem Ergebnis zu geben. Tatsächlich aber tragen auch alle anderen 26 Staaten die Verantwortung für diesen Sanktionsflop: Sie – nein: wir – hätten es seit Jahren, wenn nicht schon seit Jahrzehnten in der Hand gehabt, die Konstruktionsweise des vielzitierten "Hauses Europa" intelligenter zu planen: pragmatisch statt idealistisch, strategisch statt erratisch, mit Stürmen rechnend statt auf Sonnenschein hoffend.

Wann immer über die Zukunft Europas sinniert wurde und wird, ist stets von großen Chancen und lichtvollen Visionen die Rede, nie von düsteren Bedrohungen. Und gerade auf diese müssten wir uns eigentlich schon seit langem besser vorbereitet haben. Das Problem mit Wladimir Putin entstand nicht über Nacht, sondern über Jahre. Doch nicht einmal im vergangenen Winter, als US-Außenminister Antony Blinken Europa unmissverständlich und wiederholt vor der Gefahr eines unmittelbar bevorstehenden russischen Angriffs auf die Ukraine warnte, wurde er am alten Kontinent ausreichend gehört und ernst genommen. Hätten wir aber tun müssen.

Abhängigkeit von Russland: ein Faktum

Zurück zum aktuellen Fall: Das Einstimmigkeitsprinzip in vielen Politikbereichen der EU – so auch in diesem Fall – hat eine notwendige Weichenstellung verhindert. Es wäre aber auch falsch und unfair gewesen, über Ungarn "drüberzufahren", es einfach kalt zu überstimmen. Denn die Abhängigkeit des Landes von russischem Öl aus der Pipeline ist ein Faktum – ein Problem, das Ungarn nicht allein lösen kann, schon gar nicht ad hoc. Es ist ein Problem, das gemeinschaftlich angegangen werden muss, wenn man schon gemeinschaftlich Russland unter Druck setzen will. Orbán hat letzten Endes nur das getan, wozu ihn die EU ermächtigt hat: seine Interessen beziehungsweise jene seines Landes durchzusetzen. Und das ging einigermaßen leicht – gute Nerven vorausgesetzt.

Das lässt für weitere Sanktionspakete nichts Gutes erwarten: Denn es muss und es wird solche geben müssen. Und um das Thema Gasboykott wird die EU nicht mehr herumkommen, wenn das politische Ziel – den Krieg zu beenden – weiter nicht erreicht wird. Dann könnte wohl Österreich in die Rolle des "bad guy" kommen, der eine starke Einigung aller 27 EU-Staaten verhindern muss. Denn auch unsere Abhängigkeit von Russland in diesem Energiesektor ist ein Faktum, das sich weder alleine noch ad hoc lösen lässt. Und dann wird möglicherweise Bundeskanzler Karl Nehammer in die Lage kommen, "den Orbán" geben zu müssen. (Gianluca Wallisch, 31.5.2022)