Wien – Acht Prozent: Um so viel lagen die Preise laut Schnellschätzung im soeben zu Ende gegangenen Mai höher als im Mai vor einem Jahr. Es ist die höchste Inflationsrate seit September 1975, sagte Statistik-Austria-Chef Tobias Thomas am Dienstag.

Damals stiegen aber wenigstens noch die Reallöhne, während heuer mit minus 2,3 Prozent die höchsten Reallohnverluste seit 1955 drohen. Das Geld wird gerade weniger wert, und die Löhne im Land ziehen nicht mit.

Die armen Teile der Bevölkerung, Niedrigverdienerinnen ebenso wie Arbeitslose, sind besonders von der Inflation betroffen. Denn sie konsumieren viel in jenen Bereichen, die besonders stark von der Teuerung betroffen sind: Da wären etwa Energie und Lebensmittel.

Druck auf EZB steigt

Allzu schnell dürfte sich das Problem nicht erledigen. Für das komplette Jahr 2022 rechnen die großen Wirtschaftsinstitute Wifo und Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien mit Inflationsraten von fünfeinhalb bis sechs Prozent. Entsprechend steigt der Druck auf die Europäische Zentralbank (EZB). Noch im Juni rechnen Experten mit einer Leitzinserhöhung. Sie würde wohl zu einer Eindämmung der hohen Inflation führen, wäre aber auch schlecht für das Wirtschaftswachstum.

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Im Vergleich zum April 2021 sind die Preise für Würstel laut Statistik Austria um 7,1 Prozent gestiegen. Bei Senf sind es sogar 14,5 Prozent.
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Bis dahin versucht Österreichs Regierung, dem Problem mit Notfallmaßnahmen beizukommen. Zwei Antiteuerungspakete im Ausmaß von vier Milliarden Euro wurden verabschiedet. Es gibt etwa Einmalzahlungen für Bedürftige und Energiegutscheine für viele Haushalte. Doch schon zeigt sich, dass dies bei weitem nicht ausreicht im Kampf gegen die Inflation. Was müsste man noch tun für die Ärmeren im Land? DER STANDARD hat vier Ökonominnen und Ökonomen um ihre konkreten Ideen gebeten:

Baumgartner: Sozialleistungen öfter anpassen

Für Wifo-Ökonom Josef Baumgartner sind Unterstützungsmaßnahmen in Österreich zu wenig flexibel. Geht es nach ihm – und auch seinem Chef Gabriel Felbermayr – sollten Sozialleistungen indexiert und somit automatisch an die Teuerung angepasst werden. Baumgartner tritt vor allem für kürzere Intervalle ein: "Leistungen sollten quartalsmäßig angepasst werden, dadurch würden Hilfen mit maximal dreimonatiger Verzögerung wirken und nicht wie bisher erst nach einem Jahr." Die Leistungsbezieher seien bekannt, es brauche lediglich ein bisschen Programmierarbeit.

Auf lange Sicht fordert er ein Instrument, das dem Bund die Möglichkeit gibt, konkret auf Haushalte abzuzielen. "Der Energiebonus hat gezeigt, dass es keine passenden Informationen gibt, um gezielt zu helfen." Informationen über Einkommen (liegen beim Finanzamt) und Bewohnerinnen und Bewohner eines Haushalts (Melderegister) müssten in einem Tool kombiniert werden. Für heuer sei es dafür zu spät, in Zukunft könne man aber schnell und flexibel reagieren. So lange derartige Daten in der öffentlichen Hand bleiben, gebe es auch datenschutztechnisch kein Problem.

Köppl-Turyna: Kalte Progression beenden

Von der "kalten Progression" spricht man, wenn Beschäftigte aufgrund höherer Löhne mehr Lohnsteuer bezahlen müssen – aber in Wahrheit verdienen sie gar nicht mehr. Denn wegen der Inflation sind die Löhne nur nominell gestiegen, nicht aber real. Heißt, man verdient zwar eine höhere Summe, kann aber nicht mehr um dieses Geld kaufen. Und bezahlt dennoch höhere Steuern auf seinen Lohn. Eben diese kalte Progression müsste man abschaffen, fordert Monika Köppl-Turyna, Direktorin des industrienahen Wirtschaftsinstituts Eco Austria. Denn: "Niedrig- und Mittelverdiener sind am stärksten von der kalten Progression betroffen." Konkret wären es die ersten drei Lohnsteuerstufen bis 31.000 Euro brutto pro Jahr.

Laut Köppl-Turyna wäre es ratsam, die Maßnahme rückwirkend durchzuführen, etwa vom vergangenen Jänner weg. Die Folge: Die Nettolöhne für Österreichs Arbeitnehmer würden sogleich deutlich steigen. Es gibt allerdings ein Problem mit der Abschaffung der kalten Progression: Sie würde nur jene entlasten, die tatsächlich einer Erwerbsarbeit nachgehen. Und hier auch nicht alle: Wer weniger als 11.000 Euro jährlich brutto verdient, muss gar keine Lohnsteuer entrichten. Diese Leute kämen somit auch nicht in den Genuss dieser Steuerentlastung.

Marterbauer: Mehr soziale Absicherung

Aus Sicht von Markus Marterbauer, Volkswirt der Arbeiterkammer (AK), sollte der Hebel zur Abfederung der hohen Inflation zuerst bei den sozialen Sicherungssystemen angesetzt werden. Konkret hat er Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe, Mindestsicherung und Mindestpensionen im Auge, die Marterbauer zufolge um 200 bis 400 Euro unter der Armutsgefährdungsschwelle liegen. Diese beträgt derzeit 1.371 Euro pro Monat für einen Einpersonenhaushalt und sollte künftig die absolute Untergrenze für die sozialen Absicherungsinstrumente darstellen. "Das wäre die mit Abstand wichtigste Maßnahme", betont der AK-Ökonom.

Allerdings würde dies einiges kosten, da viele Leute, konkret 700.000 bis 800.000 Personen, davon betroffen seien. Marterbauer rechnet mit zusätzlichen Kosten von mindestens zwei Milliarden Euro pro Jahr. Ein gewisser Inflationsausgleich wäre dabei automatisch gegeben, da die Armutsgefährdungsschwelle bei 60 Prozent des Medianeinkommens liegt – sich also mit den Lohnzuwächsen der Gesamtbevölkerung erhöht. Diese Maßnahme werde regierungsseitig bereits verhandelt.

Neusser: Teuerungsausgleich via Sozialhilfe

Das IHS plädiert dafür, den vulnerabelsten Gruppen mit einem Teuerungsausgleich unter die Arme zu greifen. Das soll laut IHS-Interimschef Klaus Neusser über Mindestsicherung, Wohnbeihilfe oder Sozialhilfe durch die auszahlenden Stellen leicht zu administrieren sein. Alternativ könne man den beschlossenen Teuerungsausgleich (300 Euro) aufstocken – allerdings nicht zu stark, um Nachfrage und Inflation nicht weiter anzuheizen. (Andreas Danzer, Joseph Gepp, Renate Graber, Alexander Hahn, 31.5.2022)