Die letzten militärischen Nachrichten aus der Ukraine: Im Osten gibt es eine "schwierige Situation" für die Ukrainer. Weniger im Fokus die Vorgänge im Süden. Dort rücken die Ukrainer in der Gegend der Großstadt Cherson vor, die von den Russen erobert wurde. Die Stadt ist enorm wichtig, weil sie am Mündungsdelta des Dnjepr liegt, des gewaltigen Flusses, der die Ukraine praktisch teilt. Hier geht es um einen Zugang zum Schwarzen Meer.

So weit der "Frontbericht". Was wir aber bei all den Meldungen zu wenig beachten, ist eine gewisse Gewöhnung, ja Abstumpfung, die inzwischen nach 100 Tagen dieses Krieges eingetreten ist. Die Ungeheuerlichkeit, mit der wir da konfrontiert sind, scheint allmählich in unserem Bewusstsein zu verblassen. Und das ist auch für uns gefährlich, denn das hindert uns an einer klaren Erkenntnis – wir leben in einer Wendezeit, unser Leben ist sehr viel unsicherer geworden, und vor allem die österreichische Politik dilettiert vor sich hin.

Es sieht so aus, als müsste eine qualifizierte Öffentlichkeit die Aufgabe der Politik übernehmen, ein reales Bewusstsein zu schaffen.
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Die Ungeheuerlichkeit besteht zunächst einmal darin, dass ein faschistischer Diktator des größten europäischen Landes einfach beschlossen hat, das zweitgrößte zu überfallen. Weil es zur "russischen Welt" gehört; weil es "denazifiziert" gehört (ein Nazi ist jeder, der Wladimir Putin nicht gehorcht); weil Angriffskriege das Mittel von Diktatoren in Schwierigkeiten sind.

Das ist die grundlegende Ungeheuerlichkeit. Dazu gesellt sich eine zutiefst erschreckende Kette von bewussten Kriegsverbrechen. Die unbarmherzige Bombardierung von Städten und den Zivilisten darin. Die Morde, Folterungen, Vergewaltigungen und Plünderungen. Die Verschleppung von zehntausenden, eher hunderttausenden Ukrainern nach Russland. Die Vertreibung von Millionen – nach letzter Zählung sieben Millionen – innerhalb der Ukraine und ins nahe Ausland. All das begleitet von einem unablässigen Strom von Propagandalügen, die in Europa sogar ihre Abnehmer finden.

Abstumpfung, Realitätsverleugnung und Selbstbetrug

Die kaltblütige Demonstration, dass im Europa des 21. Jahrhunderts plötzlich wieder das Faustrecht gilt, und zwar in ganz großem Stil. Die Zerstörung der Illusion, bei Russland handle es sich um einen zwar autoritär geführten und nationalistisch grundierten Staat, mit dem man aber Geschäfte machen kann und der doch irgendwie ein Partner ist. Und der keine Verrücktheiten begeht.

Der Star-Kolumnist der New York Times, Thomas Friedman, schrieb kürzlich, erst ein Besuch in Europa habe ihm gezeigt, worum es wirklich ginge. Putins Invasion sei nicht nur gegen die Ukraine gerichtet, sondern gegen Europa. Der deutsche Ex-Außenminister Joschka Fischer habe ihm die Augen geöffnet: "Der Status quo ante wird nicht mehr zurückkommen. Wir verstehen jetzt, dass Putin nicht mehr über die Ukraine allein spricht, sondern über uns alle und unsere Art der Freiheit." Besteht diese Art der Klarheit bei unseren österreichischen Politikern? Begreifen sie, dass sich die allermeisten kindische Illusionen über die Natur von Putin und seinem Regime gemacht haben? Tief drinnen haben die meisten das wahrscheinlich erkannt. Aber sie handeln nicht danach. Sie sagen es der Bevölkerung nicht in der notwendigen Deutlichkeit. Sie erklären uns nicht, dass jetzt alles anders ist und große Veränderungen auf uns zukommen. Weil sie keinen Plan haben und weil sie glauben, dass wir die Realität nicht vertragen.

So wird Abstumpfung, Realitätsverleugnung und Selbstbetrug im Lande verstärkt. Sieht so aus, als müsste eine qualifizierte Öffentlichkeit die Aufgabe der Politik übernehmen, ein reales Bewusstsein zu schaffen. (Hans Rauscher, 6.6.2022)