Mit einer mehr als 500 Kilometer langen gemeinsamen Grenze mit der um nationales Überleben kämpfenden Ukraine ist Polen mit Abstand der wichtigste EU-Mitgliedsstaat bei der Abwehr der russischen Aggression. Zusammen mit den baltischen Staaten ist Polen von Anfang an der Schrittmacher bei der Hilfe für das überfallene Nachbarland gewesen. Über drei Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine wurden ohne Zögern in den letzten hundert Tagen aufgenommen. Die Warschauer Regierung erhebt ihre mahnende Stimme bei den internationalen Zusammenkünften gegen jene westlichen Politiker, die noch immer den Aggressor Putin durch Konzessionen beschwichtigen wollen. Die tiefverwurzelten Erinnerungen an die von Moskau gebrochenen Abmachungen von Jalta bis Minsk prägen das wache Misstrauen bezüglich der Standfestigkeit der Großmächte sowohl in Kiew als auch in Warschau.

Seitdem ich mich in meiner Kolumne vor neun Wochen mit der Lage des "paradoxen Frontstaats Polen" (29. 03.) beschäftigt habe, sind in Brüssel und Warschau umstrittene Entscheidungen getroffen worden, die zum ersten Mal eine tiefe offene Spaltung der EU-Kommission selbst enthüllt und zugleich laute Proteste der Opposition und der Zivilgesellschaft in Polen ausgelöst haben. Mit einem Mehrheitsbeschluss gegen die Stimmen der beiden exekutiven Vizepräsidenten der Kommission, Frans Timmermans und Margrethe Vestager, und bei Vorbehalten von drei weiteren wichtigen Kommissaren wurde die Auszahlung von fast 36 Milliarden Euro für den polnischen Wiederaufbauplan freigegeben.

Von der Leyens Forderungen wurden von Polen bis dato nicht erfüllt.
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Trotz der Ablehnung des grünen Lichts für die Auszahlung der Hilfsgelder durch viele EU-Abgeordnete und der beispiellosen offenen Spaltung der EU-Kommission selbst ließ sich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Chance nicht nehmen, die Freigabe der Mittel im Austausch für die Abschaffung der 2019 gegründeten Disziplinarkammer am Obersten Gericht und für weitere in Aussicht gestellte Konzessionen im Justizbereich in Warschau zusammen mit Polens Staatschef und Ministerpräsident selbst zu verkünden.

Faule Kompromisse

Wenn auch von der Leyen auf die Erfüllung weiterer Bedingungen wie die Rückkehr suspendierter Richter gepocht hatte, sehen unabhängige Beobachter und die Opposition die Änderungen als kosmetisch an, die an der umstrittenen Justizreform nicht viel ändern. Die Befürworter der faulen Kompromisse mit Warschau in der Kommission, die von der rechtskonservativen Regierung als Erfolg verkauft werden, argumentieren mit der Schlüsselrolle Polens als Frontstaat im Kampf um die Ukraine. Realpolitische Überlegungen im geopolitischen Konflikt mit Russland wiegen mehr als die Bedenken und die Strafen des Europäischen Gerichtshofes wegen der Politisierung der Justiz in dem bedeutenden osteuropäischen Mitgliedsstaat. Ob und wie die Kommission handeln wird, falls die polnische Regierung die Versprechungen zur Wiederherstellung der Gewaltenteilung nicht einhält, muss abgewartet werden.

Im Krieg mit Russland geht es auch um die Verteidigung von Werten. Deshalb betrifft die Gratwanderung in Brüssel und Warschau nicht nur Polen, sondern auch die Zukunft der liberalen Demokratie in Europa. (Paul Lendvai, 6.6.2022)