Zu viel von allem. Jeden Tag. Gleichzeitig. Und es hört nie auf. Eine Grenze zwischen privat und Arbeit ist kaum mehr sichtbar. Am Ende des Tages stellt sich nicht Zufriedenheit über das Erreichte ein, sondern ein Panikgefühl vor dem nächsten Tag. Erschöpfung und Burnout-Symptome haben sich schon vor Ausbruch der Pandemie rasant verbreitet. In den vergangenen zwei Jahren haben diese Negativspiralen allerdings noch einen ordentlichen Turboschub erhalten. Vor allem in vielen Gesundheitsberufen, aber nicht nur dort. Fast die Hälfte der Österreicherinnen und Österreicher sagte im April bei einer großen Umfrage des Jobportals karriere.at, dass die Corona-Pandemie ihr berufliches Stresslevel negativ beeinflusst habe. Gleichzeitig gaben zwei Drittel der Befragten an, dass psychische Gesundheit in ihrem Unternehmen kaum bis gar nicht thematisiert werde.

Befragt wurden rund 1000 Beschäftigte in Österreich. Demnach sieht sich ein Viertel sehr oft mit Stress und Überlastung im Job konfrontiert. 43 Prozent verspüren diesen Druck regelmäßig oder zumindest manchmal. 40 Prozent hatten schon Erfahrung mit Erschöpfungszuständen, knapp jede und jeder Zehnte war aufgrund von Stress bereits im Krankenstand, und fünf Prozent erlitten schon einmal ein Burnout. Zwölf Prozent gaben außerdem an, aufgrund von zu viel Stress im Job schon einmal gekündigt zu haben.

Dieser Artikel erscheint im Magazin "Gesunde Arbeit", das am Samstag dem STANDARD beiliegt.

Dass wenig Alkohol, regelmäßige Bewegung, Sport, schöne Erlebnisse, gute Sozialkontakte und erfüllende Gespräche mit Freunden Stresshormone abbauen und somit Körper und Psyche schützen, ist den meisten Menschen wohl bekannt. Die wenigsten praktizieren das allerdings konsequent – und selbst wenn: Was hilft es, wenn die Strukturen in der Arbeit sich nicht ändern und alles noch belastender wird, weil Kolleginnen ausfallen, das nächste Digitalisierungsprojekt kommt, noch mehr Videomeetings auf dem Plan stehen und zwecks Effizienzsteigerung gestrafft, beschleunigt, agilisiert und digitalisiert wird?

Die große Mehrheit (68 Prozent) der Befragten findet jedenfalls, dass Gesundheit in ihrem Unternehmen keineswegs oder kaum ausreichend thematisiert wird. Bei 62 Prozent gibt es kein Angebot rund um die mentale Gesundheit der Mitarbeitenden. Dabei ist auch lange belegt: Wer sich stark belastet fühlt, lebt ungesünder, isst unregelmäßig und mehr Süßes, trinkt und oder raucht mehr. Kopfschmerzen, Schwindel, Schlafprobleme, Rückenweh, Tinnitus, Blutdruckprobleme, chronische Erschöpfung und Depression gesellen sich dann oft dazu.

Selbstfürsorge als Rettungsanker

Zwar wird Arbeitsgesundheit jetzt gerade zum großen Thema, Unternehmen müssen lernen, gesunde Jobs anzubieten und Mitarbeitenden helfen, sich mittels Selbstfürsorge zu schützen. Fach- und Arbeitskräftemangel zwingen Organisationen gemeinsam mit einem neuen Selbstbewusstsein auf Arbeitnehmerseite dazu. Arbeit wird jetzt ein Stück weit entthront, soll nicht mehr länger Lebensmittelpunkt sein, Selbstzweck oder sogar Fetisch, um den herum sich der "Rest" des Lebens gruppieren muss. "So nicht mehr" – das sagen nicht nur Pflegekräfte unter dem berühmt gewordenen Schlagwort "Pflexit".

Mancherorts läuft diese Entwicklung allerdings recht langsam. Ein Grund mag sein, dass der Körper viel aushält und die psychischen Schäden oft noch immer unterschätzt werden – und auch komplexer zu behandeln sind.

Die gute Nachricht ist aber, dass Überlastungen und menschenschädigende Systeme jetzt besprechbar werden. Schulterzucken, weil ein paar Mitarbeiter es halt nicht packen, geht nicht mehr so leicht. Das Phänomen gesundheitsgefährdender Überlastungen ist viel zu groß geworden. Und junge Menschen, als Nachwuchs für die pensionsnahen Babyboomer dringend gebraucht, fordern auch weniger Arbeitszeit, weniger Arbeitsdichte und eine Wertschätzung, die sich am Menschen orientiert, statt diesen den Organisationsprozessen zu unterwerfen. Das ist nicht nur "gefühlte" Wirklichkeit, sondern schlägt in Bewerbungsgesprächen ebenso auf wie in Zahlen: 745.000 Menschen sterben jährlich an den Folgen zu langer Arbeitszeiten, publizierte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) im Vorjahr – das übersteigt die Zahl derer, die an Arbeitsunfällen versterben. Der Überschuss an Stresshormonen wird jetzt Thema, das zum Neudenken der Arbeitsstrukturen zwingt.

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Selbstbeobachtung und Selbstwahrnehmung, das sagen alle Experten, stehen am Beginn des Aufpassens auf sich selbst.
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Gefordert sind aber auch alle im Hinblick auf sich selbst. Selbstfürsorge ist nicht mehr etwas für Hypersensitive, sondern wird zur zentralen Kompetenz – nicht nur, aber vor allem im Arbeitsleben. Selbstausbeutung bis zum Umfallen als selbstverständliches Erfolgskonzept dient aus.

Und wie geht Selbstfürsorge? Ein Schaumbad ist wohl oft gut – reicht aber nicht. Es geht grundsätzlich um eine liebevolle, wertschätzende Haltung sich selbst gegenüber, die eigene Bedürfnisse wahr- und ernst nimmt. Selbstfürsorge ist damit eine Form der Eigenverantwortung und hat für viele Menschen damit zu tun, Neinsagen zu lernen.

Das ist kein Egotrip

Mit Egoismus oder Leistungsverweigerung hat das nichts zu tun: Bei der Selbstfürsorge geht es nicht darum, ausschließlich an sich zu denken, sondern vielmehr darum, sich selbst nicht zu vergessen. Viele Menschen kümmern sich so sehr um andere – Partner, Kinder, Familie, Kollegen, Chef, Kunden –, dass die eigene Gesundheit und eigene Wünsche darunter leiden. In Gesundheitsberufen hat das noch einmal eine andere Dimension. Hinter dieser inneren Haltung steht die grundsätzliche Annahme, dass wir es wert sind, uns um uns zu sorgen. Und folglich das Einüben eines sich selbst gegenüber wertschätzenden Lebensstils. Dazu gehören viele "Kleinigkeiten", die aus dutzenden Tipplisten bekannt sind: regelmäßige Pausen, gesundes Essen, Einschlafen ohne Laptop und Handy, das Pflegen wohltuender Freundschaften und Kontakte. (Karin Bauer, 17.6.2022)