Auf du und du mit den Größen der russischen Geschichte: Präsident Wladimir Putin gibt sich als Neoimperialist reinsten Wassers zu erkennen.

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Man weiß es genau: Um die Rücksichtslosigkeit seines Angriffskriegs gegen die Ukraine zu rechtfertigen, blättert Wladimir Putin mit Vorliebe in der Zarenchronik. Vielleicht um neben jemandem wie Peter dem Großen (1672–1725) nicht mickrig dazustehen, hat er jetzt aus den Annalen die Schlacht von Poltawa herausgesucht, den Großen Nordischen Krieg.

Damals, im Juni 1709, schlug Peter die schwedische Armee unter König Karl XII. vernichtend. Bereits 1703 hatte er die Stadt St. Petersburg gegründet. Der wechselhafte Krieg gegen die Skandinavier, den der "Herr aller Reußen" 1700 vom Zaun gebrochen hatte, tobte vor allem auf ukrainischem Gebiet. Was Putin, den Amateurhistoriker, heute zu dem Sager veranlasst, auch sein Los sei es, "zurückzuholen und zu stärken".

"Zurückgeholt" hat Zar Peter wenig. Dafür ging dem Sieg von Poltawa – er festigte die russische Vorherrschaft über Nordosteuropa – eine besondere "Militäroperation" voraus: Sie wäre Putins würdig. Um ihrem Gegner Ressourcen zu entziehen, verwandelten russische Reiter Teile Ostpolens und der Ukraine voller Akribie in eine Einöde. Dabei brandschatzten Zar Peters Krieger nicht nur, sondern holzten ganze Wälder ab. Um den "Treuebruch" von ukrainischen Kosaken unter Hetman Masepa zu ahnden, wurde die Residenz Baturyn dem Erdboden gleichgemacht. Frauen und Kindern ließ man keine Schonung angedeihen.

Rolle als Aggressor

Wen immer die Methoden Peters des Großen gestärkt haben sollten, sie markieren bis heute den Beginn von Russlands Anspruch, Großmacht zu sein, wenn nötig: als Aggressor. Am Abend der siegreichen Schlacht von Poltawa prostete der Zar den gefangenen Generälen der Schweden leutselig zu. Was er am Schlachtfeld zustande gebracht habe, verdanke er einzig und allein ihrem glorreichen Vorbild!

Die darauffolgende Lektion sollten Wolodymyr Selenskyj und die Mitglieder der ukrainischen Regierung genau studieren. Zar Peter drückte seine Dankbarkeit auf eine Weise aus, die an Geringschätzung grenzt. Die Kolonnen gefangener Schweden ließ er im Triumphzug durch Moskaus Gassen führen. Marschälle und der Premier stolperten, auf das Schärfste bewacht, Seite an Seite durch den Straßenstaub. Und ein Feldherr wie Marschall Rehnskiöld verschwand viele Jahre lang in den unendlichen Weiten Sibiriens. Es empfiehlt sich nicht unbedingt, auf die Großmut "echter" Zaren zu vertrauen. Um wie viel weniger noch auf eine solche, die von angemaßten stammt. (Ronald Pohl, 10.6.2022)