Kommissionspräsidentin Ursula Von der Leyen verkündete am Freitag die Kommissionsempfehlung.

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Dass die EU-Kommission der Ukraine nun auch offiziell die Zuschreibung des Kandidatenstatus für einen EU-Beitritt verkündet hat, kann niemanden überraschen. Diese Entscheidung war im Hintergrund von den Beamten der Zentralbehörde in Brüssel seit Wochen vorbereitet worden, mit den Regierungen der Mitgliedsstaaten informell besprochen und abgestimmt.

Rein formal gesehen ist es ja auch nur ein Vorschlag, der von den Mitgliedsstaaten nächste Woche beim EU-Gipfel erst noch bestätigt werden muss. Dazu braucht es Einstimmigkeit, wie bei allen wichtigen Entscheidungen der Außen- und Sicherheitspolitik sowie auch bei jedem Erweiterungsschritt der Union.

Man kann aber bereits heute davon ausgehen: Die Sache ist entschieden. Es wird nationale Einwände und Bedingungen geben. Auch von Österreich, das auf Beitritte der Staaten des Westbalkans drängt, die seit Jahren vertröstet werden. Aber die Formel, dass die Ukraine trotz des Kriegszustandes und der russischen Teilbesetzung ein Beitrittskandidat ist, ohne dass sie die dafür in den EU-Verträgen und -Regeln bestehenden Bedingungen erfüllt und ohne dass das intensiv geprüft wurde, das scheint einzementiert.

EU muss hinter Ukraine stehen

Präsidentin Ursula von der Leyen hat in Wahrheit auch nur das verkündet, was die Staats- und Regierungschefs der größten und mächtigsten Mitgliedssländer – Deutschland, Frankreich und Italien – bereits am Vortag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew vorgegeben hatten: Im völkerrechtswidrigen Vernichtungskrieg, den der russische Präsident Wladimir Putin begonnen hat, muss die EU ohne großes Wenn und Aber hinter dem in seiner Existenz bedrohten Land stehen.

Alles andere würde als Zeichen der Selbstaufgabe der Europäischen Union mitten in Europa verstanden bzw. vom Diktator im Kreml missverstanden werden in dem Sinn, dass er mit seinen Feldzügen in Ost- und Ostmitteleuropa weitermacht. Heute in der Ukraine, morgen in Moldau, übermorgen vielleicht im Baltikum oder in Polen. Das können EU-Staaten niemals akzeptieren. Sie müssen eine rote Linie ziehen. Die Privilegierung der Ukraine hat diesbezüglich einen hohen symbolischen Wert, auch wenn der reale EU-Beitritt "Jahre und Jahrzehnte" dauern wird, wie Präsident Emmanuel Macron dazusagte.

Das Dilemma der EU

Die Entscheidung, die Ukraine per Kandidatenstatus quasi zum willkommenen Vorabmitglied zu deklarieren, ist vor allem also eine zutiefst politische, eine sicherheitspolitische Entscheidung von größter Tragweite. Die EU als eine der reichsten und einflussreichsten Organisationen der Welt steht in einem Dilemma, in einer Ausnahmesituation, die der Krieg mitten in Europa geschaffen hat. Sie kann nicht hinnehmen, dass freie souveräne Staaten einfach so überfallen werden, sie muss Russland konfrontieren.

Ob einzelne Paragrafen eines "normalen" Beitrittsprozesses eingehalten werden, spielt daher im Moment eine nur untergeordnete Rolle. Macron, Kanzler Olaf Scholz und Italiens Mario Draghi standen bisher einer allzu raschen Aufnahme neuer Mitglieder sogar eher skeptisch gegenüber – anders als die Balten oder Polen, die Moskau und Putin fürchten. Das haben sie zurückgestellt. Die offensive Hereinnahme der Ukraine in die EU als Schutzraum soll Putin stoppen. Das ist zumindest die Hoffnung.

Risiken für die Union

Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass dasselbe für die Republik Moldau gilt, das ärmste Land Europas. Dort gibt es die russische Enklave Transnistrien, die Putin militärisch ebenfalls im Auge hat. Nun hat die EU offen klargestellt, dass das freie Moldau "ihr" Gebiet ist, ein Kandidatenland, mit Rumänien als Nachbarland. Umso auffälliger ist, dass Georgien (wo Teile von russischen Truppen besetzt wurden) kein Kandidat ist.

All diese Zusammenhänge, so nachvollziehbar sie auch sind, bergen freilich für die Europäische Union erhebliche Risken. Bisher war klar, dass ein EU-Kandidat nur ein Land sein kann, das über eine gefestigte Demokratie und eine unabhängige Justiz verfügt, das eine starke Marktwirtschaft hat und im EU-Binnenmarkt bestehen kann. Ein Kandidat sollte in absehbarer Zeit in der Lage sein, die Regeln der EU-Verträge umzusetzen. Erst dann war man bisher ernsthaft "Kandidat", zu konkreten Beitrittsverhandlungen in der Lage.

Man muss kein Spezialist sein, um zu erkennen, dass praktisch nichts davon auf die Ukraine zutrifft. Es ist ein Land im Krieg. Noch vor einem Jahr gab es seitens der EU viel Kritik an den schlechten rechtsstaatlichen Zuständen im Land. Im Parlament gab es Schlägereien. Und es ist bereits seit der russischen Besetzung der Krim unklar, welches Territorium im Falle eine EU-Beitritts auch dem EU-Recht unterworfen sein könnte.

Probleme einer geteilten Ukraine

Völkerrechtlich gehört die Krim, so wie auch der Donbass, selbstverständlich zur Ukraine. Aber die russischen Besatzer werden wohl so bald nicht weggehen. Eine geteilte Ukraine in die EU aufzunehmen, das wäre schwierig bis unmöglich, würde Probleme ohne Ende bedeuten.

Wie schwer es ist, wenn unsichere Kantonisten EU-Mitglieder sind, das erlebt die Gemeinschaft mit Polen und Ungarn seit einem Jahrzehnt: gelähmte Institutionen. Ein EU-Mitglied Ukraine ist noch schwerer vorstellbar. Wirtschaftlich gesehen: Das Land braucht pro Monat fünf Milliarden Finanzhilfe, um den Staat am Laufen zu halten. Hunderte Milliarden Euro werden für den Wiederaufbau nötig sein. Mit den regulären Mitteln im EU-Budget ist das auf lange Zeit nicht zu leisten, dessen muss man sich klar sein.

Und schließlich reißt der Kandidatenstatus für die Ukraine und Moldau noch weitere problematische Fragen auf: Was passiert mit dem ganzen Erweiterungsprozess insgesamt, mit den sechs Staaten auf dem Westbalkan, die in die EU drängen? Warum sollen nicht auch sie privilegiert behandelt werden? Nähme man alle Kandidaten rasch auf, stieße die EU, wie wir sie kennen, an ihre Grenzen der Handlungsfähigkeit. Sie wäre gelähmt und innerlich noch angespannter als bisher.

Aber solche Einwände zählen in Kriegszeiten weniger stark. Der Krieg "als Vater aller Dinge" wird Europa in wenigen Jahren komplett verändern. Und das bedeutet naturgemäß, dass die EU sich im Inneren deutlich verändern wird müssen. Die offensive Hinwendung zur Ukraine ist ein wichtiger Schritt dorthin. (Thomas Mayer, 17.6.2022)