Jetzt sei es genug, argumentieren viele und immer mehr: Nach 35 Jahren durchgehend in der Regierung sei es an der Zeit, dass die ÖVP in die Opposition wechsle (oder dorthin geschickt werde), sich regeneriere und so etwas wie Demut lerne. Das brauche die Partei, und dem Staat tue es auch gut: Nach Jahrzehnten an den Schaltstellen der Republik sei die ÖVP derart eng mit der Staatsmacht verschmolzen, dass dies aus Gründen der politischen Hygiene nicht mehr gesund sei. Diverse Skandale, die an die Öffentlichkeit kommen, würden das belegen: Die ÖVP und ihre Organisationen wie Bauernbund, Wirtschaftsbund oder Seniorenbund hätten ein äußerst schlampiges Verhältnis zu ihren Finanzen und verwechselten öffentliche Gelder mit ihrer eigenen Kasse.

In allen relevanten Umfragen der letzten Tage und Wochen liegt die SPÖ mittlerweile stabil bei mehr als 30 Prozent auf dem ersten Platz. Die ÖVP liegt bei 21 Prozent, hätte also gegenüber dem letzten Wahlergebnis (noch unter Sebastian Kurz) 15 Prozentpunkte abgebaut. Sie ist in der Wählergunst abgestürzt. Die Koalition mit den Grünen kommt auf etwa 30 Prozent, ist also weit von jener Mehrheit entfernt, die sie im Jänner 2020 noch zu einer Regierungsbildung befähigt hatte.

Kein Grund zur Freude: In den Umfragen sieht es für die ÖVP nicht gut aus.
Foto: Heribert Corn

Also ab in die Opposition, lasst andere ran. Das wünschen sich dieser Tage lautstark Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger, deren politische Bewegung, einst aus Frust über die ÖVP entstanden, gerade ihr zehnjähriges Jubiläum feiert, oder Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil, ein roter Freigeist. Meinl-Reisinger sieht sich bereits als Teil einer dann folgenden Ampelkoalition mit Grünen und SPÖ. Doskozil könnte sich gut vorstellen, diese Ampelkoalition anzuführen oder wenigstens als Spitzenkandidat in eine Wahlauseinandersetzung zu führen, wenn man ihn denn fragen würde.

Vorgespräche zu einer solchen Ampelkoalition gab es mehrfach, in unterschiedlicher Intensität und auf verschiedenen Ebenen. Was dagegen spricht: Doskozil wird nicht gefragt werden. Und Pamela Rendi-Wagner, auf die sich die Partei, wenn auch nicht mit Euphorie, als Chefin geeinigt hat, gilt nicht als Freundin einer Ampelkoalition. Sie folgt dem Wiener Weg, und das ist der des geringsten Widerstands. Auf Bundesebene hieße das: eine Koalition mit der ÖVP. Da gibt es viele Argumente: Stabilität, Sozialpartner, Berechenbarkeit, gute Kontakte. Die arrivierten Kräfte in der SPÖ neigen derzeit einer rot-schwarzen Koalition eher zu als dem Experiment von Rot-Grün-Pink. Gemütlicher ist es auch.

Schlagend wird das aber erst 2024. Von Neuwahlen sind wir trotz aller Turbulenzen weit entfernt: Mit einer Lage von 30 Prozent Zustimmung wird die schwarz-grüne Koalition trotz aller interner Schmerzen nicht in Neuwahlen gehen. Das käme der Festschreibung eines Schwächeanfalls gleich, daran haben beide kein Interesse. Sie werden jeden Tag an der Macht auskosten. Wer weiß, was dann kommt.

Vielleicht ja tatsächlich das Denkunmögliche: ÖVP in der Opposition. Das ist nicht verboten. Das ist Demokratie. (Michael Völker, 27.6.2022)