Das Gehirn macht im Laufe des Tages deutliche Temperaturschwankungen durch. Regelmäßige Veränderungen dürften wichtige Funktionen erfüllen.

Foto: imago images/Ikon Images

Auch wenn es allen aktuell Hitzegeplagten wie Hohn erscheinen mag: Die menschliche Körpertemperatur sinkt seit Jahrzehnten. Die Mitte des 19. Jahrhunderts ermittelte "Normaltemperatur" von 37 Grad Celsius ist für die heutige Durchschnittsbevölkerung zu hoch angesetzt, wie zahlreiche Studien der jüngeren Vergangenheit zeigen. So ergab etwa die Auswertung von 250.000 Temperaturmessungen an 35.000 britischen Patienten vor einigen Jahren eine Durchschnittstemperatur von 36,6 Grad Celsius.

Statistische Daten lassen annehmen, dass die Körpertemperatur im Laufe des gesamten 20. Jahrhunderts kontinuierlich gesunken ist – vermutlich aufgrund der verbesserten Lebensumstände vieler Menschen. Wo und wie genau die Temperatur ermittelt wird, macht aber bekanntermaßen einen Unterschied: So bringen Messungen in der Achselhöhle etwas niedrigere Ergebnisse als im Mund oder im After.

38,5 Grad Celsius im Kopf

Doch auch die rektalen Temperaturen sind nichts dagegen, was eine Messung unter der Schädeldecke bringt, wie eine kürzlich im Fachblatt "Brain" veröffentlichte Studie zeigt: Entgegen langjährigen Annahmen liegt die mittlere Gehirntemperatur demnach bei etwa 38,5 Grad Celsius und damit fast zwei Grad über der durchschnittlichen Körpertemperatur. Doch auch Spitzenwerte von mehr als 40 Grad sind in einigen Gehirnregionen häufig – und starke Schwankungen im Laufe des Tages normal. Für die Medizin seien diese Erkenntnisse von großer Bedeutung, wie das Team um Nina Rzechorzek vom MRC Laboratory for Molecular Biology in Cambridge berichtet.

Für die Studie führten Rzechorzek und Kollegen Messungen bei 40 gesunden Testpersonen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren durch. Lange Zeit stammten die Daten zur Gehirntemperatur vor allem von Menschen, die nach Gehirnverletzungen untersucht worden waren. Die sogenannte Magnetresonanzspektroskopie bietet heute eine nichtinvasive und regelmäßige Messmöglichkeit, auch bei gesunden Personen. Bei den Probandinnen und Probanden der aktuellen Studie wurden auf diese Weise jeweils vormittags, nachmittags und abends Messungen durchgeführt.

Rekordwert: 40,9 Grad

Das Ergebnis: Bei allen Versuchspersonen schwankte die Hirntemperatur im Laufe des Tages um fast ein Grad Celsius, wobei die Höchstwerte am Nachmittag und die geringsten Werte in der Nacht verzeichnet wurden. Während die Hirnoberfläche und die äußeren Regionen des Organs meist kühler war, wurden in tieferen Arealen häufig mehr als 40 Grad gemessen. Den Rekord stellte eine Frau auf, in deren Thalamus – ein Teil des Zwischenhirns – ganze 40,9 Grad festgestellt wurden.

Generell zeigte sich, dass die Gehirne der an der Studie beteiligten Frauen deutlich wärmer waren: Im Durchschnitt kamen sie auf etwa 0,4 Grad mehr als die der männlichen Probanden. Dies sei wahrscheinlich auf den Menstruationszyklus zurückzuführen, schreibt das Team um Rzechorzek: Im Rahmen der Studie wurden auch zahlreiche Daten zum aktuellen Gesundheitszustand, den Lebensumständen und dem Schlafrhythmus der Testpersonen erhoben. Die meisten Studienteilnehmerinnen wurden demnach nach dem Eisprung untersucht, ein Zusammenhang damit sei plausibel.

Wichtiger Rhythmus

Die Untersuchungen deuten aber auch daraufhin, dass die Fähigkeit zur Kühlung des Gehirns im Alter abnimmt. Das könnte im Zusammenhang mit altersbedingten neurologischen Erkrankungen eine Rolle spielen. Wie wichtig regelmäßige Temperaturschwankungen im Kopf für die Gesundheit sein könnten, deutet auch die ergänzende Analyse von Patienten mit schweren Hirnverletzungen an, wie das Forschungsteam berichtet.

Auch bei diesen Intensivpatienten waren starke Schwankungen verzeichnet worden, bei den meisten fehlte jedoch der typische Tagesrhythmus, der bei den gesunden Probandinnen und Probanden beobachtet worden war. Von den Patientinnen und Patienten ohne regelmäßige Schwankungen starb mehr als ein Viertel im Untersuchungszeitraum, während es bei den Personen mit klarem Rhythmus nur vier Prozent waren.

Diese Korrelation allein sei nicht aussagekräftig, zeige aber, dass weitere Forschungen auf dem Gebiet wichtig seien, sagte Rzechorzek. "Unsere Arbeit öffnet vielleicht auch die Tür für künftige Erkenntnisse darüber, ob eine Störung der täglichen Hirntemperaturrhythmen als frühzeitiger Biomarker für verschiedene chronische Hirnstörungen, einschließlich Demenz, verwendet werden kann." (dare, 27.6.2022)