Der Mensch setzt sie beim Mitmenschen an: eine Daumenschraube aus dem niederländischen Den Haag.

Foto: Gevangepoort Den Haag

Humanistische Rücksichten nahm Friedrich Nietzsche prinzipiell nicht. Dafür galt ihm Grausamkeit – unser aller rätselhafte Befähigung zu überschießender Gewalt – als die "älteste Festfreude der Menschheit". Aufklärer Heinrich Heine, ansonsten ein geschworener Gegner menschlicher Gemeinheit, zählte sie regelrecht unter die Glücksgüter. Neben seiner strohgedeckten Hütte wünschte sich der Düsseldorfer "einige schöne Bäume", an welchen er "sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt" zu sehen hoffte.

Die menschliche Befähigung, grausam zu handeln, und zwar wohlkalkuliert, gehört zu den unverzichtbaren Bausteinen jeder Anthropologie, die Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Kulturwissenschafter Wolfgang Müller-Funk (69) hat dem Phänomen der "Crudelitas" jetzt ein Diskursbuch gewidmet: zwölf Kapitel über den Niederschlag, den kollektive, meist politisch insinuierte Verbrechen in moderner Dichtung und Philosophie gefunden haben.

Was verblüfft: Zu den Voraussetzungen einer um Aufklärung bemühten Annäherung gehört eine Art Vorverständnis. Der Mensch, das "einzige planmäßig gewalttätige Tier auf Erden" (Marcel Hénaff), kann sich in sein Gegenüber einfühlen – und es dennoch martern. Die Grausamkeit pflegt mit der Rationalität den vertrautesten Umgang. Müller-Funk meint über sie im Gespräch: "Sie ist nicht der Ausfluss irgendwelcher dunkler Machenschaften, verursacht von bösen Buben." Sie bilde einen Bestandteil der kulturellen Evolution.

Gewalt als Kittsubstanz

Frühe Kulturen seien fragil gewesen, so Müller-Funk, hätten über keinen technischen Zusammenhalt verfügt. Gewaltstrukturen bildeten die imperiale Spachtelmasse. Canetti schrieb in Masse und Macht fasziniert über die Gewaltexzesse orientalischer Machthaber: Tyrannen, die ihre Feinde nicht nur in den Staub warfen, sondern sie geradezu vernichteten.

Zu den unbedingt modernen Zügen der Grausamkeit gehört die Idee, den Terror, um seine Wirkung zu steigern, zu "ökonomisieren". Um sie desto genießerischer zu verwirklichen, kann Gewalt aufbehalten und gestundet werden. Sie dient der Befestigung des Selbst und hilft mit, die eigene Inferiorität durch die des Gegenübers vergessen zu machen. Für die Rücksichten von Zartbesaiteten hatten reaktionäre "Meisterdenker" wie der Poet Gottfried Benn kalte Verachtung übrig. "Geschichtsphilosophie", wie wir sie kennen, war für ihn bloß "eine feminine Fortdeutung von Machtbeständen". Zur Gewalt gehört hier auch Misogynie.

Schließen heutige, identitätspolitische Rücksichten ein Sprechen über Grausamkeit nicht von vornherein aus? Sind wir zu zimperlich geworden? Müller-Funk möchte die Aspekte voneinander trennen. "Sprache beinhaltet immer auch die Möglichkeit der Distanznahme. Die Merkwürdigkeit besteht darin, dass man ihretwegen zu sich selbst einen Du-Bezug hat. Zwischen Selbst- und Fremdbezug wirkt ein Zusammenhang. Ein Übermaß an Grausamkeit beruht auf einem unstillbaren Bedürfnis nach Anerkennung. Wird sie mir nicht direkt zuteil, dann eben indirekt: indem sich alle vor mir fürchten!"

Die Einschüchterung durch Cancel-Culture weist der Philosoph zurück: "Es ist schon richtig, dass wir in einer Gesellschaft leben, die die Minderheitenrechte hochhängt. Das ist auch gut so. Wenn jemand aber seine Identität über eine angenommene Opfergeschichte befestigt, dann erscheint mir das widersinnig. Das Ziel sollte gerade sein, die Opferrolle aufzugeben, anstatt in ihr zu verharren. Eine Verletzung in einer Diskussion zu erfahren, bloß weil die eigene These infrage gestellt wird, ist unsinnig: Dergleichen muss zumutbar sein."

Paradoxe Situation

Abschließend meint Müller-Funk: "Den Beleidigtenstatus als Identitätsmarker einzusetzen, um sich einen Argumentationsvorsprung einzuhandeln, ist unlauter – weil es nicht rational ist." Er selbst halte "die Grausamkeiten, die ich im Buch beschrieben habe, nicht sehr gut aus. Aber das würde ich niemals zum Argument machen. Vielleicht besitzt die Philosophie auch den großen Vorteil, die Darstellung von Gewalt auf eine äußerst reflektierte Art zu leisten, schon weil sie nicht affirmativ ist." Wie aber kann man über die Schrecken des Krieges heute, siehe Ukraine, noch sprechen?

"Wir befinden uns in einer paradoxen Situation. Wir gehören einer Gesellschaft an, die ihre Konflikte auf allen Ebenen friedlich abzuhandeln versucht. Privat wie transnational. Was tun mit jemandem, der wie Wladimir Putin alle Spielregeln, die wir gekannt haben, außer Kraft setzt? Die Paradoxie besteht darin: Wir müssen aufrüsten, um die Waffen nicht einsetzen zu müssen. Auch das ist eine Perversion. Wären wir in der Lage gewesen, über ein ausreichendes Drohpotenzial zu verfügen: Vielleicht hätten wir Putin vom Agieren abhalten können. Natürlich laufen wir Gefahr, dass wir vom Ungeist, indem wir ihn bekämpfen, infiziert werden." (Ronald Pohl, 1.7.2022)