Irmgard Griss ist mit der politischen Umsetzung der Forderungen der Kindeswohlkommission unzufrieden.

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Im Jänner 2021 erregte die Abschiebung der damals zwölfjährigen Tina, ihrer damals fünfjährigen Schwester und ihrer Mutter große Aufmerksamkeit. Lehrerinnen und Lehrer von Tina, Freundinnen und Freunde, aber auch andere Menschen aus der Zivilgesellschaft protestierten tagelang dagegen. Sogar Sitzblockaden gab es vor dem Familienabschiebezentrum. Verhindern konnte all das die Abschiebung letztlich nicht.

Ein gutes Jahr später allerdings, im März 2022, erklärte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Abschiebung für rechtswidrig. In seinem Urteil verwies das BVwG unter anderem darauf, dass die in Wien geborene Tina bis zu ihrer Abschiebung mehr als zehn Jahre ihres Lebens in Österreich verbracht und somit "ihre grundsätzliche Sozialisierung" hier erfahren habe. Die Abschiebung bezeichnete das Gericht ohne erneute Abwägung des Kindeswohls als "unverhältnismäßig".

Und bereits direkt nach den Abschiebung Tinas – und inmitten der öffentlichen Aufregung darüber – hatte Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) eine Kindeswohlkommission unter der Leitung der einstigen Präsidentin des Obersten Gerichtshofs und Ex-Neos-Abgeordneten Irmgard Griss eingesetzt. Sie sollte sich mit Kinderrechten und dem Kindeswohl bei Entscheidungen zum Asyl- und Bleiberecht befassen und entsprechende Empfehlungen an die Politik erarbeiten. Das tat die Kommission auch. Allein: Laut ihren Vertreterinnen und Vertretern schenkte die Politik den Empfehlungen der Kommission nicht allzu viel Beachtung.

Wie viel wurde umgesetzt?

Im Februar monierten Griss und einige ihrer Kolleginnen und Kollegen, die sich inzwischen zum Bündnis "Gemeinsam für Kinderrechte" zusammengeschlossen hatten, dass keine einzige der elf Empfehlungen der Kommission bis dato umgesetzt worden sei. Am Mittwoch gibt das Bündnis nun anlässlich des Jahrestags des Erscheinens des Berichts der Kindeswohlkommission eine Pressekonferenz. Wie steht es mittlerweile um die Umsetzung der Empfehlungen?

"Ein bisschen etwas hat sich schon getan", sagt Griss im Gespräch mit dem STANDARD. Zumindest drei der elf Empfehlungen seien inzwischen umgesetzt worden. Konkret: Erstens hat das Justizministerium kürzlich für das BVwG einen Leitfaden für das Kindeswohl im Asyl- und Fremdenrecht veröffentlicht. Darin werden die wichtigsten Rechtsgrundlagen, verfahrensrechtliche Aspekte und zentrale Begriffsinhalte beleuchtet, wie es in einer Aussendung des Ministeriums hieß. Bereits zuvor habe man eine Ansprechrichterin für das Kindeswohl als ersten Kontaktpunkt für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BVwG benannt. Auch Weiterbildungsangebote mit externen Expertinnen und Experten sind laut Justizministerium wie gefordert geschaffen worden.

Das Innenministerium zählt die Empfehlungen der Kommission etwas anders, nämlich mit Unterpunkten. Demnach umfasst ihr Bericht in Summe 34 Empfehlungen. Auf STANDARD-Anfrage heißt es aus dem Ministerium, von den 31 Empfehlungen, die das Innenressort betreffen, seien 22 Empfehlungen bereits umgesetzt. Zwei weitere Empfehlungen befänden sich aktuell "in laufender Umsetzung".

Die restlichen Empfehlungen der Kommission seien dagegen nicht umsetzbar oder würden nicht umgesetzt, unter anderem weil diese nicht im Einklang mit dem Bericht des Beirats des Ministeriums stehen würden beziehungsweise "eine Einzelfallprüfung in Verfahren, die Kinder betreffen, teilweise obsolet machen würden". So würde die Gewährung eines Bleiberechts bis zur Volljährigkeit "allen illegal aufhältigen Familien mit Minderjährigen de facto ein Bleiberecht ermöglichen", heißt es aus dem Ministerium. Dies würde "die Gefahr verstärken, dass Kinder dazu missbraucht werden, um ein Bleiberecht für Erwachsene zu erwirken".

Krisper: Anfragebeantwortungen durch Ministerien lückenhaft

Griss kritisiert unterdessen, dass es "noch immer kein umfassendes Kinderrechte-Monitoring für die Gesetzgebung und Vollziehung" gebe. Besonders fehle eine unabhängige Anlaufstelle für Fälle, in denen das Kindeswohl massiv gefährdet scheint. Sinn einer solchen Stelle wäre laut der ehemaligen Höchstrichterin, dass sich etwa Lehrer oder Nachbarinnen eines von Abschiebung bedrohten Kindes an sie wenden könnten, wenn sie befänden, dass das Kind besonders gut integriert sei.

In der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage der Neos-Abgeordneten Stephanie Krisper durch das Innenministerium vom 4. Juli heißt es zur Berücksichtigung des Kindeswohls in Asylverfahren: Das grundlegende Prinzip der Orientierung am Kindeswohl im Sinne der Kinderrechtskonvention verlange, dass bei allen Maßnahmen, die Minderjährige betreffen, das Wohl des Kindes im Vordergrund stehe. Dies betreffe gesamtstaatliche Maßnahmen des Gesetzgebers ebenso wie (gerichtliche und behördliche) Einzelfallentscheidungen und Vollzugsakte. "Das Kindeswohl wird selbstverständlich in sämtlichen Schritten des Verfahrens berücksichtigt", heißt es weiter.

Krisper kritisiert gegenüber dem STANDARD, dass Anfragen zum Thema sowohl im Innenministerium unter Ressortchef Gerhard Karner (ÖVP) als auch im Justizministerium unter Ministerin Alma Zadić (Grüne) häufig sehr allgemein und unzureichend beantwortet würden. "Viele Fragen bleiben auch ganz unbeantwortet", sagt Krisper. Dies sei auch bei früheren Anfragen zum Thema der Fall gewesen. Aufschlüsselungen seien häufig inkomplett gewesen, manche Zahlen gar nicht geliefert worden. (Martin Tschiderer, 12.7.2022)