Als Margaret Atwood in den 1980er-Jahren The Handmaid’s Tale schrieb (eine Dystopie über eine misogyne, puritanische Diktatur in den USA), hat sie immer wieder abgebrochen, weil sie es als zu weit hergeholt empfand. "Silly me", reflektiert sie heute trocken.

Die Aufhebung von Roe v. Wade kommt wie ein Schock, bahnte sich aber schon lange an. Sie erinnert uns daran, dass Frauenrechte weniger wert sind als andere – wie etwa das Recht auf Waffentragen –, wenn sie nicht in Gesetzestexten verankert sind. Da kann es schon mal passieren, dass die Bibel als Vorlage herhält, auch wenn in ihr Abtreibung kein einziges Mal erwähnt ist.

Mitte der 1980er kam ein Pärchen von der Aktion Leben in unsere Klasse und erzählte uns was von zerstückelten Embryos und zerstörten, lebenslang schuldzerfressenen Frauen. Vom glücklichen Ausweg der Adoption. Abtreibung sei nichts anderes als Mord, wurden wir mit sanfter Stimme indoktriniert. Dass man, wenn man gescheit verhütet, diese Art Mord nicht begehen muss, lehrte mich mein Umfeld. Ein paar gab es, die sich noch zu Schulzeiten ein Kind "wegmachen ließen": Wir munkelten, wie es dazu gekommen war, und waren uns einig, dass die betroffenen Mädchen zu deppert zu verhüten waren, oder zu notgeil, oder beides. Entsetzen, Verachtung, Schnappatmung: Das waren die Reaktionen, die sie – hinter ihrem Rücken natürlich – verdient hatten.

Ich brauchte ein paar Jahre, um zu kapieren, dass es nicht so läuft, wie man das gern hätte. Dass man die Gesetze und die Sexualmoral vorgibt und dass frau sie auszubaden hat. Weil das mit dem Verhüten nämlich nicht so einfach war. Kondome rissen, rutschten oder wurden als unzumutbar abgelehnt; die Pille bescherte mir ein Paar schmerzempfindliche, grotesk aufgeblähte Brüste, und außerdem bereiteten mir die seitenlangen Nebenwirkungen Sorgen.

Traurige Historie

Der Gynäkologe wischte sie unwirsch zur Seite. Ich bilde mir die Brüste doch nur ein, Millionen von Frauen würden die Pille gut vertragen und wären obendrein ihre Menstruationsbeschwerden und Hautunreinheiten los! Anstatt mir ein Pessar anzupassen, wie ich kleinlaut vorschlug, verschrieb er mir ein anderes Präparat (diesmal wuchsen mir Abszesse, die ich mir nur einbildete) und riet mir, ein paar Kilo abzunehmen. Das war ein patriarchales Schlüsselerlebnis für mich: Dass ein Mensch, der keine Brüste hat, einem anderen Menschen, der sehr wohl Brüste hat, erklärt, wie sich diese gefälligst nicht anzufühlen haben, hat mein Vertrauen in die Qualität der gynäkologischen Grundversorgung nachhaltig erschüttert. Ich bekam noch mehr Lektionen verpasst: Verhütung ist Frauensache, Frauenheilkunde ist Männersache, und Schwangerschaftsabbruch ist ein No-Go. Dass Abbrüche in Österreich kein verpflichtender Teil der Ausbildung sind, dass sie nicht von der Kasse bezahlt werden, dass sie verweigert werden können – von den Ärzten und Ärztinnen, von den Krankenhäusern, ja sogar von Bürgermeistern: Das sind alles frauenpolitische Versäumnisse, die von konservativen Parteien ignoriert oder bewusst oder in Kauf genommen werden – und von ihren Wählern und Wählerinnen.

Ich musste erst ein paar verspätete Perioden abzittern und die traurige Historie der illegalen Abbrüche nachlesen, bevor ich draufkam, dass die gängigen Moralvorstellungen absolut nichts mit der reproduktiven Realität zu tun haben; und dass frau weder notgeil noch zu deppert zum Verhüten sein muss, um vor der Notwendigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs zu stehen. Zumindest theoretisch die Option auf einen Abbruch zu haben beruhigte mich ungemein, genauso wie die Abbrüche, die in meinem Umfeld vorgenommen wurden.

Keine dieser Frauen wirkte zerstört und schuldzerfressen; keiner dieser Abbrüche war leichtfertig riskiert worden. Zweimal musste die Schule fertiggemacht werden, einmal war es eine Kupferspirale, die versagte; einmal eine Gewaltbeziehung, die besser nicht um ein gemeinsames Kind erweitert werden sollte; und einmal war es ein nicht lebensfähiges Kind. Das leichtfertige, sündige und gedankenlose Abtreiben, das Frauen so gern unterstellt wird und das weder fürs Geldbörsel (ca. 350 bis 1000 Euro) noch fürs körperliche Wohlbefinden erfreulich ist, war nicht dabei.

Bürgerliche Sexualmoral

Mein Wissen über Abtreibung war ein Mythos, der auf dem Boden der bürgerlichen Sexualmoral und religiösen Sexualfeindlichkeit gewachsen ist. Nicht die Schule, nicht mein Umfeld, keine Instanz außer die feministische (Sach-)Literatur hat mich über die gynäkologische Realität, die im Schatten der religiösen Wunschvorstellung Alltag war und ist, informiert. Dass vor Einführung der Fristenlösung fast drei Mal so viele Abtreibungen durchgeführt wurden – und dafür oft umgerechnet 700 Euro (mehr als ein durchschnittliches Monatsgehalt), ein feines Körberlgeld für viele Frauenärzte, kassiert wurden. Dass Frauen teilweise mehrmals, bis zu zehn Mal, abtrieben. Dass sie in ihren Gebärmüttern herumstocherten oder stochern ließen, ohne Narkose, ohne Expertise, mit Stricknadeln, Kleiderbügeln oder Flaschenbürsten; wie sie mit Treppenstürzen, Bleichlauge, Cola und Kräuteressenzen experimentierten und, wenn all das nichts half, ihre entbundenen Babys mit Alkohol, Gift oder Eiseskälte ins Jenseits beförderten oder befördern ließen – völlig unbeeindruckt davon, wie man, die Gesetzeslage oder der Papst dazu stand.

Weil sie keine Wahl hatten oder keinen Ausweg sahen. Weil sie kein Geld, keine Unterstützung, keine Zukunftsperspektive sahen. Und so ist es immer noch: Weil wir nicht in matriarchalen Clans leben, in denen Kinder willkommen aufgefangen werden, egal, wer sie gezeugt hat, sondern in einer in Kleinfamilien strukturierten Gesellschaft, die Fürsorgearbeit und Mutterliebe als unendliche Ressource ausbeutet, ohne Frauen und ihre Kinder wirtschaftlich und sozial genug zu unterstützen. Eckdaten über die ungerechte Verteilung von Fürsorgearbeit und die Lage von Alleinerzieherinnen und ihren Kindern beweisen das.

Ich wuchs mit dem Trugbild auf, dass das Recht auf einen Abbruch in einer feministischen Vorzeit erwirkt worden war, so wie das Wahlrecht oder das Recht auf Meinungsfreiheit. Ich weiß nicht mehr, wann mir bewusst wurde, dass Abtreibung hierzulande nach wie vor strafbar ist. Viel zu spät: Denn es gehört nicht zum Allgemeinwissen, dass nur ein kleiner Paragraf darüber entscheidet, ob Familienplanung sicher ist oder ein Albtraum. Ob sie als gynäkologischer Eingriff oder als Verbrechen klassifiziert ist. Ob eine Frau fremd- oder selbstbestimmt ihre Sexualität leben darf. Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ist ein juristischer Gnadenakt – dieses Wissen sollte allen Menschen, ganz besonders aber jenen mit Gebärmutter, bewusst sein.

Vereinzelt gab es Proteste, aber wirklich blutig wird es erst, wenn die Aufhebung von Roe v. Wade in der Lebensrealität vieler US-Frauen angekommen ist. My body, my choice: Aktion vor dem Wiener Stephansdom gegen die schockierenden und fatalen Gesetzesänderungen zur Fristenlösung in den USA.
Foto: IMAGO/Antonio Balasco

Ein Ei ist kein Huhn

Evangelikale Kräfte in den USA berufen sich auf das fünfte Gebot und darauf, dass das Leben mit der Zeugung beginnt. Eine nüchterne wissenschaftliche Analogie zu der Embryonalentwicklung genügt, um dieses Dogma anzuzweifeln. Ein Ei ist kein Huhn; ein heranreifender Apfel ist kein Baum. Ab wann ist ein Zellklumpen, der ohne Verbindung zu einem mütterlichen Organ nicht überlebensfähig ist, eine Person? Wenn der Herzschlag einsetzt? Wenn Arme und Beine entwickelt sind oder die Organe? Sind die Gameten nicht schon vor der Verschmelzung so eine Art halbes Leben, im Eierstock, in den Hoden? Ist Leben nicht ein zyklischer Prozess und der Moment der Zeugung nur ein willkürlich gewählter Moment?

Da kommt die Seele ins Spiel. Der Zeitpunkt ihres Eintritts in den Körper ist es, der frauenpolitisch und gynäkologisch relevant ist. Muslime entscheiden etwa zwischen Tropfen- (40 Tage), Blut- (80 Tage) und Fleischklümpchenstadium (120 Tage); Abtreibung ist unter bestimmten Umständen erlaubt. Bei den Juden sind es theoretisch 40 Tage, aber de facto beginnt das Leben erst mit der Geburt – ein Umstand, der die sehr liberale Haltung Israels bei Embryonalforschung, Leihmutterschaft und Abtreibung erklärt. Im Hinduismus und im Buddhismus ist der Zeitpunkt der Zeugung schlagend, in vielen Ländern ist Abtreibung dennoch zulässig. Indiens säkulare Gesetzgebung erlaubt Abbrüche, sie spielt aber der pränatalen, verbotenen Geschlechtsbestimmung in die Hände; mit Stand 2020 fehlen dort 72 Millionen Mädchen. Im Buddhismus wird nach einer Abtreibung eine Steinfigurine gespendet, die den abgetriebenen Embryo durch die Unterwelt begleitet.

Die katholische (und evangelikale, nicht jedoch die evangelische) Position – Abtreibung unter gar keinen Umständen – ist der Simultanbeseelung (Seeleneinzug bei Zeugung) nach Papst Pius zu verdanken, ist erst 150 Jahre alt und der komplexen Jungfräulichkeit Mariens geschuldet. Thomas von Aquin vertrat noch die Theorie der Sukzessivbeseelung, bei der eine Nähr- zur Sinnesseele und erst zuletzt zur vernünftigen Seele evolviert. Die zieht nach 40 Tagen beim männlichen, nach 80 Tagen beim weiblichen Fötus ein. Thomas konnte damals noch nicht wissen, dass um den 40. Tag alle Embryonen – zumindest was die Entwicklung der Genitalien betrifft – Mädchen sind; aber er wusste immerhin, dass "Mädchen durch schadhaften Samen oder feuchte Winde entstehen".

Sexualfeindlichkeit, fundamentales Nichtwissen, gepaart mit Beratungsresistenz und Interpretationsgymnastik – dafür war die christliche Kirche immer schon zu haben. Da wundert es nicht, dass in einer der reichsten Industrienationen nicht Fakten, sondern Mythen über das Schicksal von Frauen entscheiden – ganz wie in Atwoods Gilead. Dass man Abtreibungen niemals verbieten, sondern nur durch Zugang zu Verhütungsmitteln, Aufklärung, Bildung und Armutsvermeidung eindämmen, aber nie ganz verhindern kann, wurde weltweit ermüdend oft bewiesen. Würde es den Republikanern um den Erhalt von Leben gehen, stünden das Festhalten an der Todesstrafe und auch die innige Umarmung mit der Waffenindustrie, die 20.000 Menschen (1000 davon Kinder) im Jahr das Leben kostet, zur Diskussion.

Natürlich geht es um die gute alte Kontrolle über das Weib. Die Kontrollmechanismen sind hochmodern."
Foto: Feministisches Bündnis "My Body My Choice"

Natürlich geht es um die gute alte Kontrolle über das Weib. Die Kontrollmechanismen sind allerdings hochmodern. Der gläserne Mensch hat einen gläsernen Uterus: Menstruationsapps, soziale Medien, Krankenakten, Apothekenbesuche – die "Heartbeat Bill", die in Texas zur Jagd auf abtreibende Frauen und deren Helfer bläst, zeigt, wozu der Staat fähig ist. Nicht nur Abtreibende, auch all jene Schwangeren, die Fehlgeburten, Eileiterschwangerschaften, Infekte oder Unfälle erleiden, und all ihre Mitwissenden, wie Klinikpersonal, Freunde und Familie, werden kriminalisiert. Schon wird Schwangeren die Vorsorge vorenthalten, aus Furcht, bei einer Komplikation in den Verdacht einer Mittäterschaft zu geraten. Ausweichen in andere Bundesstaaten ist oft unmöglich und soll kriminalisiert werden, genauso wie Abtreibungspillen, die von Organisationen verschickt werden. Aktivistinnen klären auf, löschen Apps und verlangen Vasektomien. Aber die christlichen Bürgerwehren formieren sich, tarnen sich als Hilfsorganisationen und sammeln eifrig Daten. Atwoods Handmaid’s Tale ist im 21. Jahrhundert angekommen.

Welche Optionen bleiben?

Dass Schwangerschaft schon vor dem Entscheid in einem Land mit dürftigem Gesundheitssystem und so gut wie keinen Sozialleistungen für Mütter und Kinder ein ökonomisches und gesundheitliches Risiko war, rundet die Ungeheuerlichkeit der ganzen Sache nur ab. Wohlhabende werden einen Weg finden. Welche Optionen bleiben den anderen? Geschlechtsakt nur dann, wenn der Wille zum ehelichen Kind da ist? Jungfräulich bleiben, sich nicht vergewaltigen lassen, auf eine unkomplizierte Schwangerschaft hoffen und alle Zweifel wegbeten? Frauen steht kein Mitgefühl zu, keine Empathie, man spricht ihnen die Grundrechte ab und teilt sie ihren Leibesfrüchten zu. Ein paar Tote mehr nimmt man gern in Kauf. Werden eh nur Frauen sein, die es nicht anders verdient haben.

In Österreich hat die Nachricht aus den USA ein kleines Erdbeben ausgelöst. Nicht nur haben sich Geistliche (entgegen dem päpstlichen Auftragsmord-Sager) mit vorsichtiger Kritik an der US-Entscheidung geäußert. Auch bürgerliche Jungpolitikerinnen haben die Fristenregelung als liberale Fahne gegen die US-Politik geschwenkt. Wie ernst dürfen wir das nehmen? Als die schwarz-blaue Regierung I an die Macht kam, wurde vielen Feministinnen mulmig. Wie steht es um die rechtskonservativen parlamentarischen Mehrheiten, und wie fest ist die Politik im Griff der Kirche, und warum bitte schwirren all diese Opus-Dei-Leute um den Kanzler herum? Welches politische Substrat braucht es, um die Zeit unauffällig ein paar Jahre zurückzustellen? Was hätte es gebraucht, um die Fristenlösung in ein Grundrecht zu gießen, so wie es jetzt gerade in der EU angedacht ist? Linke Mehrheiten und der Wille zu konsequenter Frauenpolitik – unsere Demokratie hat leider seit Jahrzehnten "andere Sorgen".

Nicht im neuen Jahrtausend

Da können die jungen Konservativen noch so salbungsvoll den Niedergang der weiblichen Selbstbestimmung in den USA beklagen: Es ist naiv, einer Partei, deren Kanzler sich von evangelikalen Hardlinern segnen lässt, die kostspielig im Nationalrat betet und ihre Ministerinnen zur Bischofskonferenz speichellecken schickt, frauenpolitisch über den Weg zu trauen. In ihren Reihen gibt es nicht nur radikale Hardliner und Hardlinerinnen, sondern auch die ganz normalen Wögingers, die für "Frauendings" so was von nicht zuständig sind, dass sie nicht einmal merken, wenn sie sich bis auf die Knochen blamieren. Egal, welche frauenpolitische Agenda – Familienpolitik, Steuerrecht, sexuelle und strukturelle Gewalt –, wenn es nach der ÖVP ginge, wären wir noch lange nicht im neuen Jahrtausend. Wie gut, dass vor 50 Jahren ein bisschen Zukunftspolitik dazwischengerutscht ist.

Nicht auf Kassenbasis

In Tirol und Vorarlberg, wo ganze zwei (bald pensionierte) Gynäkologen die Schwangerschaftsabbrüche von zwei Bundesländern stemmen, bekommt die ÖVP gerade die Chance, ihre progressiven Anwandlungen unter Beweis zu stellen; stattdessen mauert sie gegen die Öffnung der Krankenhäuser für Abbrüche.

Eine Gesundheitspolitik, die Empfängnisverhütung nicht auf Kassenbasis hinkriegt, eine Familienpolitik, die den Frauen die unbezahlte Fürsorgearbeit zuschanzt, Aufklärungsunterricht mit Radikalen wie "Teenstar", ein Arbeitsmarkt, der Alleinerzieherinnen und Pensionistinnen, die unter der Armutsgrenze leben müssen, normalisiert, eine Finanzpolitik, die Familienboni an Vielverdiener ausschüttet anstatt sozial zu staffeln – das sind allesamt keine erquickenden frauenpolitischen Signale.

Gertraud Klemmist Schriftstellerin, zuletzt erschien von ihr "Hippocampus" (2019). Im Frühjahr 2023 erscheint ihr neuer Roman bei Kremayr und Scheriau.
Foto: Heribert Corn

Zurück zu den USA: Bei dermaßen fatalen rechtlichen Einschränkungen für die Hälfte der Bevölkerung fragt man sich – wo bleibt die Revolte? Wie in Polen gibt es landesweite Proteste, aber werden sie etwas ausrichten können? Vielleicht wenn sich die Männer solidarisieren? So wie beim EU-Votum für ein Recht auf Abtreibung braucht es stärkere Signale als bisher. Bei den feministischen Protesten in den 1970er-Jahren standen die Männer noch am Straßenrand und feixten. Jetzt, in den USA, marschieren viele mit. Das ist gut und wichtig. Noch sind es anteilig nicht so viele wie bei den radikalen Lebensschützern – aber vielleicht wird das ja noch? Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Silly me. (Gertraud Klemm, 17.7.2022)