Schreiben, das ist das andere Leben. Das Leben schreiben, so lautet der Titel eines Sammelbands der großen französischen Autorin Annie Ernaux, die gerade wieder in aller Munde ist: Frankreichs Starkritiker François Busnel widmet ihr als einzigem Gast eine ganze Ausgabe seiner Kultsendung La Grande Librairie, Denis Scheck liegt ihr in Druckfrisch zu Füßen, in Frankreich ist gerade eine umfangreiche Monografie mit Aufsätzen zu ihrem Werk, Skizzen und Briefauszügen erschienen, ihr Sohn zeigt in Cannes einen Film, den er aus den alten Super-8-Filmen der Familie montiert hat, und alle, alle wünschen ihr den Nobelpreis, nachdem sie es im vergangenen Jahr überraschend in die Endrunde geschafft hatte.

In diesem Frühjahr überraschte Annie Ernaux mit einem neuen schmalen Band, in dem sie nach Erinnerung eines Mädchens (Suhrkamp, 2018), Die Scham (Suhrkamp 2020) und Das Ereignis (Suhrkamp, 2021) ein letztes Tabu ihres Lebens oder unserer Gesellschaft bricht: Sie erzählt die Liebesgeschichte, die sie mit einem 30 Jahre jüngeren Mann gelebt hat. Eine vielleicht letzte Zeitreise, die es ihr erlaubt, eine neue Etappe ihres Schreibens zu erreichen.

Ernaux bei den heurigen Filmfestspielen in Cannes, wo der Super-8-Film "Les années" präsentiert wurde.
Foto: APA / AFP / Julie Sebadelha

Der Titel ist ein Versprechen und eine Poetik zugleich: "Dabei geht es nicht um mein Leben oder um Ihr Leben oder um irgendein Leben", präzisiert es Annie Ernaux selbst, "sondern um das Leben in seinen Ausprägungen, die für alle gleich sind, aber unterschiedlich empfunden werden." Der Text ist ein Schlüssel für ihr gesamtes Werk, er beschreibt ihren Zugang zur Zeit und zum Schreiben. Schon das Motto, das sie diesem knappen Band voranstellt, lässt das erkennen: "Wenn ich sie nicht aufschreibe, sind die Dinge nicht an ihr Ende gekommen, sind sie nur gelebt worden." Leben, Liebe, Sexualität als Auslöser für das Schreiben. Sie wartet auf das Ende der Lust, um nur noch die des Schreibens empfinden zu können. Aber noch ist das körperliche Begehren stark und lässt sie das Wagnis dieser ungleichen Liebe eingehen, auch aus Angst, sonst keine Zukunft zu haben.

Ein junger Student schreibt ihr ein Jahr lang, nach einem Abendessen, bei dem er vor Schüchternheit kaum etwas sagt, nimmt sie ihn mit nach Hause, und es beginnt etwas, das sich vom Abenteuer zur Geschichte entwickelt, die schließlich beide bis zu ihrem Ende gehen wollen. A., der Student, wie sie selbst aus einfachen Verhältnissen stammend, war schon in Die Jahre (Suhrkamp, 2017) aufgetaucht, jetzt erzählt sie die Geschichte im Rückblick und so minimalistisch wie möglich, rücksichtslos gegen sich und ihn. Schreibend will sie sich von ihm befreien, ihn in sich töten. Der Sex mit ihm war allerdings der beste ihres Lebens, das muss uns reichen. Mehr verrät die "Virtuosin der Reduktion" nicht.

Darüber hinaus wird diese Beziehung für Annie Ernaux zu einer Zeitreise in ihre eigene Jugend: Der junge Mann bewohnt in Rouen ein kärgliches, schlecht geheiztes Zimmer gegenüber dem Hôtel-Dieu, dem Krankenhaus, in das sie in den 1960er-Jahren nach einer illegalen Abtreibung und heftigem Blutverlust eingeliefert worden war. Diese Koinzidenz überhöht die Begegnung schicksalhaft. Es ist auch das Krankenhaus, das Flauberts Kindheit und Jugend bestimmt hat, dessen berühmter Vater hier Chefarzt war, während die Familie nebenan wohnte und der kleine Gustav durchs Fenster seinem Vater beim Sezieren zusehen konnte.

Gesten und Gewohnheiten

Annie Ernaux findet im Verhalten des jungen Liebhabers die Armutscodes ihrer Kindheit und in der Wohnung mit defektem Kühlschrank, der den Salat tiefgefriert, und einem Herd ohne Temperaturregler ihre eigene Studentenzeit wieder. Auch auf der Matratze auf dem Fußboden … Nicht nur hier hat sie das Gefühl, "Szenen aus ihrem Leben als Studentin nachzuspielen, Momente, die schon einmal stattgefunden haben". Vor 30 Jahren hätte sie, die Aufsteigerin, sich von ihm abgewandt, da sie alle Zeichen ihrer Herkunft hinter sich lassen wollte. Jetzt wird er zum "Engel, der die Vergangenheit heraufbeschwört, der sie ewig leben lässt". Jetzt lässt er sie die Erinnerung an ihre erste Welt wiederfinden, lässt sie durch seine Gesten und Gewohnheiten alle Phasen ihres vergangenen Lebens wieder durchlaufen.

Annie Ernaux,"Le jeune homme", € 8,– / 38 Seiten, Éditions Gallimard 2022. (Der Band ist noch nicht auf Deutscherschienen.)

Zeit- und alterslos gleitet sie halb bewusst, halb unbewusst durch Zeitschichten. "Sie spürt sich selbst in verschiedenen Momenten ihres Lebens, die übereinander zu schweben scheinen … in dem sich Vergangenheit und Gegenwart überlagern, aber nicht ineinander aufgehen", so hatte sie schon in Die Jahre diesen Zustand beschrieben.

Ihrer eigenen Generation entrissen, kommt sie nicht in seiner an. Er ist eifersüchtig, verlässt seine 20-jährige Freundin für sie und liebt sie mit ihren 54 Jahren mit einer Leidenschaft wie noch kein Liebhaber zuvor.

Die Liebe einer älteren Frau zu einem wesentlich jüngeren Mann ist eines der letzten Tabus der Gesellschaft: Marguerite Duras, Edith Piaf wurden noch skandalisiert, Brigitte Macron ist erst heute möglich. Ernaux beschreibt die empörten Blicke der Umwelt auf das "inzestuöse" Paar. Aber auch ihre trotzige Reaktion, wenn sie auf der Strandpromenade von Fécamp wütende Reaktionen auf sich zieht wie einst als Jugendliche, als sie hier mit einem zu durchsichtigen Kleid spazieren ging und von ihrer Mutter zurechtgewiesen wurde: Auf einmal ist sie wieder das gleiche junge Mädchen, das Skandal erregt, aber dieses Mal ohne die mindeste Scham, mit einem Gefühl des Triumphes.

Aber das Auseinanderdriften der gelebten Zeitebenen – sie hat noch Kriegs- und Nachkriegserinnerungen, seine reichen allerhöchstens bis zur Wahl Giscard d’Estaings – wird irgendwann schmerzlich. Als sie sich Kinder- und Jugendbilder zeigen, kann er die Schönheit der jungen Frau, die sie einmal war, nicht ertragen: "Dieses Foto da macht mich traurig." Sie sieht die Liebesgeschichte immer mehr als ein ständiges Palimpsest, immer wieder überschrieben. Seine Rolle als Öffner von Zeitfenstern ihres Lebens ist zu Ende, sie spürt nur noch Wiederholung, Erlebnisse aus zweiter Hand, Secondhand-Gefühle. Der junge Mann wird von Rouen nach Paris gehen, die Provinz mit der Hauptstadt vertauschen wie einst Frédéric Moreau und weitere Lehrjahre des Gefühls durchleben. Sie wird das neue Jahrtausend frei und alleine betreten und ihren großen soziologischen Roman Die Jahre beginnen, wird ihre individuelle Biografie in der kollektiven verankern und damit auch für uns "etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird". (Barbara Machui, 16.7.2022)