Die nicht selten ergreifenden, Mark und Bein erschütternden Fallgeschichten psychisch Kranker des britischen Neurologen Oliver Sacks (1933–2015) als "entzückend" zu bezeichnen, das konnte nur einem Kollegen einfallen. Es war der Russe Alexander R. Lurija, den Sacks verehrte und mit dem er Briefe wechselte.

Lurija sagt heute dem breiteren Publikum kaum noch etwas, Sacks dafür umso mehr. Sechs Jahre nach Sacks’ Autobiografie On the Move erschien Lawrence Weschlers biografisches Porträt auf Deutsch. Den Titel hatte sich der Arzt bei dem mit ihm befreundeten englischen Poeten Thom Gunn entliehen gehabt. Heißt es doch in dessen gleichnamigem Gedicht: "Schlimmstenfalls ist man in Bewegung, bestenfalls in Reichweite / von nichts Absolutem, in dem man Ruhe fände, man ist immer / näher, indem man nicht stehen bleibt."

Anfänge und später Ruhm

Der Kalifornier Weschler wurde 1981 Journalist beim New Yorker. Das Einstellungsgespräch war nicht untypisch: unverlangt eine von Verlagen bis dato abgelehnte lange Biografie über einen kalifornischen Lichtkünstler an den Chefredakteur geschickt, von diesem nach New York eingeladen, eingestellt beim Essen in einem teuren Restaurant. 20 Jahre später wurde der dann 50-jährige Weschler, dessen vier Großeltern alle aus Wien geflohene Juden waren, Professor an der New York University.

Aufmerksam auf Oliver Sacks war er schon 1974 geworden, als einer seiner Literaturprofessoren Loblieder auf Sacks’ Zweitling Awakenings – Zeit des Erwachens angestimmt hatte, den Bericht über die Behandlung von Parkinson-Patienten, Katatonikern und Demenzkranken mit dem neuen pharmakologischen "Wundermittel" L-Dopa. Nach der ihn durchrüttelnden Lektüre fragte sich Weschler: Wie wirkte, was Sacks erlebte und durchmachte mit seinen Patienten, auf diesen selbst? Woher kam dieser Menschen zugeneigte Scharfblick, experimentell Neues zu testen und den moralischen Mut hierfür aufzubringen?

Lawrence Weschler: "Oliver Sacks. Ein persönliches Porträt". Aus dem Englischen von Hainer Kober. € 25,70 / 480 Seiten. Rowohlt, 2021

Schreibwut und -blockade

Weschler probierte sich Ende der Siebziger an einem Awakenings-Drehbuch, fragte bei Sacks ob Interesses nach, der antwortete freundlich. So kam ein erster Kontakt zustande. Der sich ab Sommer 1981 vertiefte und von Weschler in zahlreichen Notizbüchern festgehalten wurde. Da war Sacks noch ein mäßig bezahlter Arzt in New Yorker Spitälern und Heimen, skrupulös, freigebig, großzügig, einsam, von Komplexen und inneren Dämonen gepiesackt. Rasch stand Weschlers Plan fest, eine Kurzbiografie über diesen unkonventionellen Neurologen zu verfassen. 1985 erschien, nach sich abwechselnder Schreibwut und Schreibblockade, Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, das Buch, das Sacks weltberühmt machte. Awakenings wurde 1990 verfilmt. Nun wollte sich Weschler daranmachen, seine Aufzeichnungen in ein Buch zu überführen. Sacks bat ihn, es zu lassen, er könne, sagte er, es nicht ertragen, mit sich zu Lebzeiten konfrontiert zu werden. Sie blieben befreundet.

In den vier Jahren ab 1981 war, so Weschler, er der Boswell von Dr. Johnson alias Sacks. Diese Jahre waren dessen intellektuell-kreativer "Dreh- und Angelpunkt". Auf diese konzentriert sich Weschler. Er schreibt zugänglich, zugeneigt, enorm lesbar. Er rekonstruiert zahlreiche Gespräche und Ausflüge, intensiven, persönlichen Austausch beim Essen, zu Hause, im Londoner Haus des Vaters. Immer wieder finden sich prägnante Formulierungen, die Sacks charakterisieren. Etwa die Selbsteinschätzung: "Tatsächlich bin ich als Arzt ein Naturforscher des 19. Jahrhunderts." In einem Brief nannte er sich einen "neurologischen Romancier". An anderer Stelle gestand Sacks, er sei mehr an der "Naturgeschichte komplexer Störungen interessiert, an ihren Ursachen und Heilungen – mehr jedenfalls als an der Therapie allein." Wie wahr.

Er war Romantiker im Sinne eines universalistischen Ansatzes, er fand nicht nur ob seines eleganten Stils breiten Anklang, sondern auch, weil er antiatomistisch war, die reduktionistischen akademisch unpersönlichen Subsubspezialisierungen scheinbar federleicht konterkarierte. Immer wieder gibt Weschler Interviews mit engeren und etwas entfernteren Sacks-Freunden ein.

Die Grenzen der Medizin

Es ist eine intelligente, sympathische, intensiv tiefenauslotende Beschreibung eines umfassend neugierigen Wissenschafters und brillanten Autors, der die Grenzen der Medizin sprengte, der als Student englische Poeten intensiv las wie weitgehend vergessene Naturwissenschafter des 19. Jahrhunderts. Und der später mit Autoren befreundet war, so mit dem Dichter W. H. Auden, aber auch mit dem Lyriker Thom Gunn. Also: Nicht stehen bleiben, immer wieder ruhelos Neues lernen, eine inspirierende Lebenshaltung. (Alexander Kluy, 16.7.2022)