Lech avanciert zum literarischen Hotspot. Die Kühe können es bezeugen.

Foto: Mia Eidlhuber

Elke Heidenreich, die deutsche Autorin und Literaturkritikerin, bringt es Freitagnachmittag auf den Punkt, als sie sich gleich zu Beginn der Frühnachmittagsveranstaltung beim Publikum herzlich bedankt. Dafür, dass jetzt alle hier drinnen sein möchten und nicht da draußen irgendwo in den Bergen, bei diesem herrlichen Wetter in Lech am Arlberg. Die literaturbegeisterte wie literaturbegeisternde Heidenreich hat am Tag zuvor mit ihrem Eröffnungsvortrag zu Herman Melvilles berühmtem Klassiker "Bartleby, der Schreiber", erstmals 1853 veröffentlicht, den zweiten Jahrgang des Literaricums eröffnet: "Ich möchte lieber nicht. Für Literaturkenner ist das ein sehr berühmter Satz", weiß Heidenreich, "der Satz des Schreibgehilfen Bartleby, der in der Kanzlei eines Rechtsanwalts und Notars arbeitet und plötzlich leise und doch mit entschiedener Stimme zu einer Arbeit, die man ihm anträgt, sagt: 'Ich möchte lieber nicht.'"

Der zweite Jahrgang des Literaricums wurde mit Elke Heidenreichs Vortrag zu Herman Melvilles Klassiker "Bartleby, der Schreiber" eröffnet.
Foto: Mia Eidlhuber

Dass man hier aber nicht nur nicht möchte, sondern im Gegenteil mit diesem noch jungen Literaturfestival am Arlberg viel vorhat, dafür steht nicht zuletzt der Vorarlberger Schriftsteller Michael Köhlmeier, der als Mitbegründer des Philosophicums Lech schon 25 Jahre lang bewiesen hat, wie sehr sich eine Kulturveranstaltung zum wichtigen Event für eine Region auswachsen kann. Für die kluge und umsichtige Programmierung des neuen Literaturablegers ist aber nicht nur Köhlmeier zuständig, sondern mit ihm zusammen auch der in Vorarlberg lebende Tiroler Dichter Raoul Schrott und nicht zuletzt die deutsch-schweizerische Moderatorin und Literaturkritikerin Nicola Steiner (Literaturclub, SRF).

Raoul Schrott hat mitprogrammiert.
Foto: Dietmar Hurnaus

Social-Media-Sucht und Marathonlesung

Das Konzept, sich in jedem Jahr mit einem Klassiker aus der Literaturgeschichte zu befassen, der im besten Fall auch viel mit unserer komplexen Gegenwart zu tun hat, um mit diversen Veranstaltungen dann sowohl in die Breite zu gehen als auch zu literarischen Tiefenbohrungen zu kommen, ist auch im heurigen Jahr gut aufgegangen. Bei Elke Heidenreich auf dem Podium etwa sitzt am Freitagnachmittag die junge Berliner Politologin und Autorin Juliane Marie Schreiber, die sich Bartlebys berühmten Satz ausgeborgt und "Ich möchte lieber nicht" zum Titel ihres aktuellen Sachbuchs gemacht hat, ein rasendes Pamphlet gegen den Glücksterror der heutigen Zeit. Verweigerung also: Gegen Herzeigzwang, Social Media-Sucht, Coaching-Irrsinn und die tatsächlich oft dümmlichen Denkverordnungen zum Positiven. Das alles kriegt hier über eine Stunde lang kräftig Fett ab, zum großen Vergnügen aller Zuhörenden. Fazit: Die ständige Glückssuche macht unglücklich. Dass dieser Bartleby in Sachen Verweigerungshaltung aber auch kein unbedingtes Vorbild sein kann, das ist allen Literaturaffinen schon am Freitagvormittag klargemacht worden.

Bis zu Bartlebys bitterem Ende

Zwei Stunden lang hat der angereiste Thomas Sarbacher den Klassiker ob seiner Kürze in voller Länge gelesen, was heißt, performt – bis zu Bartlebys bitterem Ende. Dem deutschen Schauspieler gelingt dabei nicht nur, die Figur dieses notariellen Schreibers – wie es im Text heißt: "farblos ordentlich, mitleiderregend anständig, rettungslos verlassen" – in Szene zu setzen, sondern auch die aus heutiger Sicht "besonders große Menschlichkeit" (Köhlmeier) von Bartlebys Arbeitgeber und Chef herauszuarbeiten. Er ist immerhin die Erzählstimme im Text.

Wer war dieser Bartleby? Der deutsche Autor, Übersetzer und 2021 mit dem Josef-Breitbach-Preis ausgezeichnete Karlheinz Ott würde, um gleich mit Bartleby zu sprechen, auf diese Frage, gestellt von der Festival-Kuratorin Nicola Steiner, lieber keine Antwort geben, und führt das Literaricum mit seinen nachfolgenden Ausführungen trotzdem weg vom Glücksstreben einer neoliberalen Leistungsgesellschaft hinein in die Weiten literaturwissenschaftlicher Interpretationen. Wann wurde "Bartleby" als avantgardistische Erzählung entdeckt? Wie sieht es mit der psychoanalytischen Deutung dieses Texts aus? Was haben die Denker Deleuze, Agamben oder Camus über Bartleby gedacht? "Kafka ist nur Nacht, Melville ist Tag und Nacht", sagt Ott, ein unerschöpflicher Assoziationsmeister und Glücksfall trotz Bartlebys deprimierender Verfasstheit. "Habe ich mich schon wieder verzettelt?", fragt Ott und führt mit großer Zielstrebigkeit weiter durch die Rezeptionsgeschichte von Melvilles Antihelden.

Betörend und wunderschön

Wie abwechslungsreich sich Zugänge zu einem klassischen Stoff gestalten können, das beweist auch Christoph Bartmann, ehemaliger Chef des Goethe-Instituts in Warschau, der, wie er erzählt, 2012 mithilfe seiner Sachbuchabrechnung über "Leben im Büro" gewissermaßen seinen Frieden mit den Zumutungen der modernen Arbeitswelt gemacht hat. Stichworte gibt es zur Genüge: 24/7, Homeoffice, Shared Office, Objektiv Key Results (OKRs) und Sparmaßnahmen. Gerold Riedmann, Medienmanager und Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten, ist da auf dem Podium ein guter Sparringspartner, der – in Turnschuhen und sehr kurzweilig – die Versilikonvalleyisierung unserer Büroleben beschreibt und Parallelen zu "Bartleby, dem Schreiber" zieht, der ja ähnlich wie die Menschen, die heute für Google arbeiten, seine Arbeitsstätte "auch in eine Art Campus verwandelt hat".

Bestes Wetter für die literarische Vertiefung.
Foto: Mia Eidlhuber

Für die absurd wunderbaren Momente des Literaturfestivals sorgt der wieder sehr sonnige Samstagvormittag. Nicht nur Elke Heidenreich hat sich und ihren immer zum Absprung bereiten Mops mit dem Sessellift auf die Kriegeralpe in Oberlech gehievt, um von einem Tiroler Universalgelehrten altägyptische Liebesgedichte vorgetragen zu bekommen. "Das muss ich aufschreiben!", ruft sie gutgelaunt. Andere sind zu Fuß gewandert und ringen noch nach Atem. Wer an dieser Stelle glaubt, dass Raoul Schrotts Lyriklesung ("Die Blüte des nackten Körpers"), die das Publikum auf über 200 Meter Seehöhe zu den Ursprüngen der Menschheit und deren Literatur führt, vielleicht nichts mit "Bartleby, dem Schreiber" zu tun hat, der irrt: Diese Gedichte aus dem Jahr 2.100 vor Christus wurden von Schreibern aufgeschrieben! Betörend und wunderschön: Kulisse, Vortrag und die Gedichte: "einzig ein kuss von dir, nase an nase, ließe mein herz wieder klopfen – von deinem atem begänn es wieder zu schlagen".

Inniger Schiffbruch

Dass am Nachmittag dann ausgerechnet das mit Spannung erwartete Podium mit dem Übersetzer und frisch gekürten Paul-Celan-Preisträger 2022 Ulrich Blumenbach über die große Kunst des Übersetzens und die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen "Der bleiche König" von David Foster Wallace und "Bartleby, der Schreiber" kurzfristig abgesagt werden muss, hat nichts mit Bartlebys Verweigerungshaltung "Ich möchte lieber nicht" zu tun, sondern mehr mit den ermüdenden Herausforderungen pandemischer Zeiten, in denen wir noch immer leben. "Die Kraft des Absurden", unter diesem immerhin hoffnungsvollen Motto beschließt der Deutsche-Buchpreis-Träger (2015) Frank Witzel, moderiert von der Kulturwissenschafterin Katharina Teutsch, den Reigen an Gesprächen – mit viel Distanz zum eigenen Denken, denkwürdigen Ansichten zu Außen- und Innensichten von Protagonisten und einigen Denkanstößen zum Thema Verzicht. Was würde mich befreien? Das fragt sich stellvertretend für uns alle Frank Witzel, sein aktueller Roman lautet "Inniger Schiffbruch" (2020), und kommt zur Enthaltsamkeit, etwa von fixen Meinungen. Den Schiffbruch also innig annehmen: "Man muss nicht zu einem Ende kommen", so sagt es der Schriftsteller. Das Literaricum leider doch. Bleibt bloß die Frage: Welcher Klassiker kommt nächstes Jahr? Wer weiß? Nicola Steiner lächelt: "Kommen Sie einfach wieder nach Lech!" (Mia Eidlhuber, 18.7.2022)