Szene aus dem Film "Arsenal" von Oleksandr Dovzhenko aus dem Jahr 1920.

Foto: Dovzhenko Centre

Sie könnte auch ein Baum am Wegesrand sein. So bewegungslos steht sie, den Kopf nach unten baumelnd, das Gesicht von ihrem Haar verdeckt, am Rande der Dorfstraße. Ein Soldat nähert sich ihr. Wird er an ihr vorbeigehen? Oder nachsehen, ob es ihr gutgeht? Nein, er greift ihr, als wäre sie kein lebender Mensch, auf ihre Brust. Dann geht er weiter. Sie bleibt vollkommen starr.

Eine andere Frau steht wie eine biblische Salzsäule mit leerem Blick in ihrer ärmlichen Stube. Da ist keine Hoffnung mehr im Gesicht, das Licht in ihr wurde scheinbar abgedreht. Später werden ihre Kinder sie am Rock zupfen und bitterlich weinen, sie reagiert erst nicht, dann prügelt sie auf die Kleinen ein. Doch die Kinder sieht man dann nicht mehr, nur das verzweifelte Gesicht und die durch die Luft fliegenden Fäuste der Mutter.

Regisseur Oleksandr Dovzhenko schneidet von diesem Gewaltausbruch immer wieder zu einem ausgemergelten Soldaten am Feld, der sein geschundenes Pferd prügelt.

Seelische Invaliden

"Ich habe eine Krähe getötet. Das Wetter ist schön", notiert indes ein Uniformierter am Schreibtisch sitzend in sein Tagebuch. Sprachlosigkeit, von Gewalt traumatisierte Menschen, sexuelle Übergriffe und von Gasangriffen scheinbar berauschte Soldaten: Die Themen sind uns vertraut. Doch die Bilder sind fast 100 Jahre alt. Es sind Bilder eines Krieges in der Ukraine, eines Krieges, wo Frauen Freiwild sind und jene, die die Schlachten überleben, mindestens als seelische Invaliden übrigbleiben.

Dovzhenko drehte Arsenal 1929. Die erste Episode zeigt Galizien und die Ukraine nach dem Ersten Weltkrieg, als Österreicher und Deutsche die Besatzer waren. Der Film, der als Klassiker der sowjetischen Avantgarde gilt, läuft in einem eigenen kleinen Raum in der Neuen Galerie im Grazer Joanneum in der Ausstellung Ein Krieg in der Ferne. Der Untertitel verrät, dass der gemeinte Krieg so fern gar nicht ist, weder in zeitlichen noch in räumlichen Einheiten gemessen. Die kleine Ansammlung weniger historischer und vieler ganz aktueller Arbeiten zeigt "die umkämpfte Ukraine in Videokunst und Film".

Die Intendantin des Mehrspartenfestivals Steirischer Herbst, die Russin Ekaterina Degot, versteht die Schau als Prolog auf das Festival, dessen 55. Ausgabe heuer von 22. September bis 16. Oktober stattfinden soll. Dass der Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt, das Festival inhaltlich nicht verändern werde, sei von Beginn an undenkbar gewesen. Der Prolog sei nur eine erste Reaktion auf Putins Krieg, den Degot klar ablehnt.

Dass Krieg eine zivilisierte Gesellschaft nicht voranbringt, sondern immer auch Rückschritt bedeutet, bringen auch die visuellen Verse im Cinepoem Letter to a Turtledove (2020) der jungen Ukrainerin Dana Kavelina auf den Punkt.

Dana Kavelina montierte für ihre Arbeit "Letter to a Turtledove" (2020), aus der dieser Filmstill, stammt, histrosiches Material und moderne Animationen.
Foto: Dana Kavelina

Sie montierte historisches Material mit Animationen und Szenen aus dem Krieg im Donbass und ließ diese immer wieder rückwärts ablaufen. So setzt sich etwa das Volk, anstatt sich zu erheben, dem Bergarbeiter fliegen die aus dem Berg gestemmten Brocken wieder in den Fels zurück, und die Paraden marschieren rückwärts.

Pavel Braila porträtierte für den Film "Vera Means Belief" (2022) eine widerständige Frau in einem Flüchtlingslager.
Foto: Pavel Braila

Kuratiert wurde die Schau von Mirela Baciak und David Riff. Neben Dovzhenko und Kavelina werden Arbeiten von Zoya Laktionova, Kateryna Lysovenko, Mykola Ridnyi, Philip Sotnychenko und Pavel Braila gezeigt.

Verharren im Zeltlager

Braila ist dabei der Einzige, der nicht aus der Ukraine stammt. Der Moldauer zeigt in seinem heuer entstandenen und berührenden Film Vera Means Belief eine 72-Jährige, die trotz besserer Alternativen in einem kargen Flüchtlingslager ausharrt, um näher bei ihrer Heimat, der Ukraine, zu bleiben. (Colette M. Schmidt, 19.7.2022)