Kann einen Apfel vom Baum im Vorgarten pflücken Sünde sein? Die großartige Jessie Buckley hat als Harper mit Männern zu kämpfen.

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Der britische Regisseur Alex Garland ist ein Grenzgänger. Er wandelt auf verschiedenen Genrepfaden und treibt seine Figuren an die kinematografischen Ränder zeitgenössischer Diskurse. In seinem Debüt Ex Machina um zwei Männer und ein Robotermädchen verhandelte er die Frage, was den Menschen menschlich macht; in der Netflixproduktion Auslöschung schickte er einen Trupp aus fünf Frauen in eine geheimnisvolle Zone, in der sich Mensch, Tier und Natur in ständiger Mutation befinden.

Men ist nun selbst eine originelle Mutation, ein stilbewusstes Update des Folk-Horror und zugleich eine exzentrische Allegorie auf Trauma und toxische Männlichkeit. Dass der Film im Kino startet, ist eine gute Nachricht. Denn Men ist, ob man ihn nun in seiner vermeintlichen Eindeutigkeit plump oder in seiner eventuellen Vieldeutigkeit fantastisch findet, ein viszerales Erlebnis.

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Die Farben leuchten, der Wald ist ein (scheinbar) grünes Paradies, die Erinnerungen sind ein Albtraum unter einem ins Rot kippenden Farbfilter. Die Kamera (Stammkameramann: Rob Hardy) ist fast ständig in Bewegung und Motor der inhärenten Unruhe. Auch auf der Tonspur passiert viel, etwa das chorale Leitmotiv, das Harper (Jessie Buckley) in einer der stärksten Szenen im Dunkel eines Tunnels quasi selbst erschafft.

Wenn zu Beginn während Harpers Autofahrt durch eine pittoreske Landschaft Lesley Duncan fröhlich "Love is the opening door" singt, kann das nichts Gutes verheißen. Nicht nur wegen der vorherigen Sequenz, in der die Frau blutend zu sehen ist, sondern weil hier alles – Kubricks Shining schaut um die Ecke – mulmig macht: dieses abgelegene Örtchen auf dem englischen Land, das überproportionierte, in die Jahrhunderte gekommene Feriendomizil und auch der Gastgeber Geoffrey (Rory Kinnear) als ein provinziell verquatschter, schräger Zeitgenosse, der noch im Scherz meint, es sei Sünde, dass die Frau einen Apfel vom Baum im Vorgarten isst.

Das tote Auge eines Rehs

Harper versucht sich von einem Trauma zu erholen. Aus den eingeworfenen Erinnerungsfetzen schält sich heraus, dass ihr Mann nach der Trennung vom Haus gestürzt ist, später sieht man ihn aufgespießt auf einem Zaun. War es der angedrohte Selbstmord wegen der Trennung oder doch ein Unfall? Im Dorf jedenfalls wartet die geballte männliche Übergriffigkeit. Ein Pfarrer legt Harper die Hand auf die Schenkel und sagt, sie habe ihren Mann in den Tod getrieben, ein seltsamer Junge will mit ihr Verstecken spielen, ein nackter Typ mit Blattwerk im Gesicht erschreckt sie bei einem Waldbesuch. Sie alle werden vom chamäleonartigen Kinnear gespielt – ein so einfacher wie verstörend effektiver Kniff.

Men ist einerseits überbordender Symboldschungel voller metaphorischer Anspielungen: auf Christliches, auf den Mythos des Grünen Mannes (dessen Antlitz in Mittelalter und früher Neuzeit sakrale und weltliche Gebäude schmückte), auf Sheela-na-Gig (ein in Irland und England bekanntes Relief einer weiblichen Figur, die ihre Vulva präsentiert) und auf Tiersymboliken. In einer starken Szene kriecht die Kamera ins Auge eines toten Rehs.

Anderseits wird die Botschaft des Films aufs Grausamste zugespitzt, denn alle Männer haben es auf Harper abgesehen, die zwar ein Opfer mit emotionalem Ballast ist, aber nicht klein beigibt. Garlands inszenatorische Finesse ist so atemberaubend wie sein inhaltlicher Extremismus. Men entpuppt sich als verstörender persönlicher wie gesellschaftlicher Seelenstriptease, in dem sich toxische Männlichkeit selbst reproduziert. (Jens Balkenborg, 20.7.2022)