Zuerst brachen in der Pandemie die Lieferketten zusammen, über die billige Güter aus Asien nach Europa strömten. Dann blieben viele der Arbeitskräfte aus den osteuropäischen Nachbarstaaten aus, auf die sich der heimische Tourismus, die Gastronomie, die Pflege, die Bauwirtschaft und andere Branchen stützen. Und nun droht der Ausfall der russischen Gaslieferungen, von denen das Heizen im Winter, ein Teil der Stromversorgung und unzählige Produktionsverfahren in der Industrie abhängig sind.

Pandemie, Inflation und Energiesorgen haben das Vertrauen vieler Menschen in die wirtschaftliche Zukunft erschüttert.
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Österreichs Volkswirtschaft ist seit 2020 einem Dreifachschock ausgesetzt, wie ihn das Land seit Gründung der Zweiten Republik nicht erlebt hat. Es ist eine Wirtschaftskrise, die jeder Einzelne spürt, beim Einkaufen, Tanken oder Bezahlen von Rechnungen. Für viele ist es klar: Wir stehen wirtschaftlich am Abgrund, die Zeit des Wohlstands ist vorbei.

Aber kann das wirklich sein? Das Bruttoinlandsprodukt sollte heuer immer noch um rund zwei Prozent steigen, die Beschäftigung ist auf einem Rekordstand, und auch wenn manche Bestellungen wochenlang auf sich warten lassen, gibt es bei der Versorgung keinen Mangel.

Wir müssen an ausländische Autokraten mehr für importiertes Öl und Gas zahlen, aber der Großteil der Wertschöpfung entsteht im Dienstleistungsbereich und bleibt im Inland. Würde unser Wohlstand tatsächlich auf billiger Energie und billigen Arbeitskräften basieren, dann gehörte Österreich nicht zu den reichsten Ländern der Welt. Denn davon haben andere Staaten mehr.

Spitzenplätze für Österreich

Wohlstand ist die Folge von hoher Arbeitsproduktivität, und hier liegt Österreich immer noch weltweit nahe der Spitze. Das hat das Land einer ausgezeichneten öffentlichen und privaten Infrastruktur, einem sehr großen Kapitalstock mit modernster Technologie, einer gut funktionierenden Verwaltung und dem hohen Bildungs- und Qualifikationsniveau der Arbeitnehmerschaft zu verdanken.

Das ermöglicht unzähligen kleinen und größeren Unternehmen, trotz vergleichsweiser hoher Arbeitskosten auf den Weltmärkten wettbewerbsfähig zu bleiben. Dazu trägt auch die intensive Zusammenarbeit im EU-Binnenmarkt bei, der die kleine Volkswirtschaft in einen der weltgrößten Wirtschaftsräume einbettet.

Und dank der unternehmerischen Exporterlöse ist genügend Geld für den Import von Waren da, die anderswo günstiger oder besser produziert werden können – und auch für die kostspieliger gewordene fossile Energie.

Österreichs Leistungsbilanz ist nach 20 Jahren mit durchgehenden Überschüssen durch die höheren Öl- und Gasrechnungen 2021 ins Defizit gerutscht, das sich heuer noch ausweiten wird – aber das ist kein Zeichen wirtschaftlicher Schwäche. Zwar fühlen sich die Menschen subjektiv ärmer, doch objektiv gesehen ist Österreich von Armut weit entfernt.

Stabil, günstig und vorbei

Dennoch sind die aktuellen Erschütterungen nicht egal, sagt Harald Oberhofer, Ökonom am Wifo und an der WU Wien. "Ein Teil unseres Wettbewerbsvorteils war, dass wir stabiles und günstiges russisches Gas bezogen haben. Das ist für absehbare Zeit vorbei." Vor allem die Gefahr von Energieausfällen würde die Industrie hart treffen und den Standort auch längerfristig weniger attraktiv machen. Höhere Stromkosten seien weniger problematisch, denn da herrscht in der EU ein einheitlicher Preis, sagt Oberhofer.

Wohlstand ist die Folge von hoher Arbeitsproduktivität, und hier liegt Österreich immer noch weltweit nahe der Spitze.
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Günstige fossile Brennstoffe waren besonders für die Papier-, Stahl-, Plastik- und Chemieindustrie gefördert – Sparten, die man als "old economy" bezeichnen kann. Ohne das günstige Gas würde Österreichs Wirtschaftsstruktur anders und vielleicht zukunftsträchtiger aussehen: Hightech-Unternehmen benötigen wenig Energie.

Manche aber, wie etwa der Chiphersteller Infineon in Villach, haben ein anderes Problem, sagt Oberhofer: Sie sind von seltenen Rohstoffen abhängig, die oft aus Ländern mit einer problematischen Politik importiert werden. "Vieles könnte man auch in Österreich abbauen, aber wir wollen diesen Bergbau aus umweltpolitischen Gründen nicht", sagt er.

Wertschöpfung aus dem Dienstleistungssektor

Bei aller Bedeutung der Industrie stammt der Großteil der Wertschöpfung in Österreich aus dem Dienstleistungssektor, der von den hohen Energiekosten viel weniger betroffen ist. Dort wiederum hat Österreich von seiner Nähe zu EU-Mitgliedsstaaten mit niedrigerem Lohnniveau profitiert, etwa im Tourismus und der Gastronomie. Das erklärt, warum Ausgehen und Übernachten im Inland immer noch häufig günstiger ist als in West- und Nordeuropa.

Angesichts des Personalmangels in diesen Branchen stehen viele Betriebe vor einem Dilemma, sagt Oberhofer mit einem Seitenhieb auf Arbeitnehmervertreter. "Gefordert wird: Zahlt höhere Löhne, aber Preise erhöht auf keinen Fall, sonst seid ihr herzlose Kapitalisten. Dass höhere Kosten zu höheren Preisen führen, ignorieren gewisse Teile in der wirtschaftspolitischen Debatte."

Die größte Gefahr für die EU und Österreich wäre eine Fragmentierung der Weltmärkte und damit ein Ende der Globalisierung. Es mag attraktiv klingen, nicht mehr von Lieferungen aus fernen Staaten mit fragwürdigen Arbeitsbedingungen abhängig zu sein und die Dinge in oder nahe der Heimat zu produzieren, aber der Welthandel und die internationale Vernetzung durch Direktinvestitionen haben entscheidend zum Wohlstandswachstum der vergangenen Jahrzehnte beigetragen.

Chinas Schlüsselrolle

Hier kommt China eine Schlüsselrolle zu. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt mag zwar in der österreichischen Außenhandelsstatistik nur an neunter Stelle stehen, aber für Deutschland ist sie seit vielen Jahren der größte Handelspartner – und damit auch ein entscheidender Faktor für den Erfolg der heimischen Zulieferindustrie.

Chinas Wirtschaft leidet unter der strikten Corona-Politik und strebt unter Präsident Xi Jinping danach, die internationale Verflechtung der Wirtschaft zu verringern. Gleichzeitig will die Führung Chinas Rolle als Werkstatt für billige Massenprodukte reduzieren und verstärkt in der Hochtechnologie mit USA und EU konkurrieren.

All diese Trends berühren auch Österreich. Die Billigproduktion können andere asiatische Staaten wie Vietnam und Malaysia auffangen, schmerzhafter wäre es, wenn der chinesische Markt für Autos, Maschinen und andere hochwertige Produkte abgeschottet wird.

DER STANDARD

Besonders problematisch wäre es, wenn die USA und China in ihrem Wettkampf um globale Vorherrschaft konkurrierende Blöcke bildeten – eine Gefahr, die laut Oberhofer unter demokratischen wie auch republikanischen US-Präsidenten droht. "Das wäre die weitere Verzwergung der EU in der Welt", sagt er. "Europa würde an Einfluss verlieren und wäre das Beiwagerl zu den USA, so wie Russland zu China." Zumindest in Afrika könnte die EU weiterhin eine zentrale Rolle spielen, müsste dafür aber viel aktiver werden als bisher.

Investitionen in die Zukunft

Was kann also Österreich, was kann die EU tun, um den Wohlstand nachhaltig zu sichern? Wichtiger als die aktuellen Energiekosten sind die Steigerung der Produktivität und Investitionen in Zukunftstechnologien. Je mehr einzelne Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erwirtschaften, desto höher wird ihr Realeinkommen, unabhängig von Gaspreis und Inflation. Und durch Forschung, Entwicklung und Innovation sorgen der Staat mit seinen Einrichtungen sowie die Unternehmen dafür, dass die Gewinne im eigenen Land bleiben und nicht an Patent- und Lizenzhalter im Ausland abfließen.

Im IT-Bereich wurde in Europa hier in den vergangenen Jahrzehnten viel verschlafen, weshalb alle großen Tech-Konzerne in den USA und China sitzen. Bei der Entwicklung der erneuerbaren Energien hat die EU hingegen auch aufgrund ihrer stärkeren Klimapolitik eine Chance und kann damit gleich drei Fliegen auf einen Schlag treffen: Vorreiterschaft in einem profitablen Zukunftssektor, geringere Abhängigkeit von russischem Gas und saudischem Öl – sowie ein effektiver Beitrag gegen die Klimakrise.

Konkret sieht Oberhofer in Österreich großen Handlungsbedarf bei schnelleren Zulassungsverfahren und Baugenehmigungen für neue Industrien, beim Kampf gegen die Wissenschaftsfeindlichkeit, um das Land für Forschung attraktiver zu machen, und bei der Bildung. "Nur mit einem modernen Bildungs- und Innovationssystem können wir langfristig unseren Wohlstand absichern", sagt er.

Im Vergleich zu diesen Herkulesaufgaben ist die Suche nach neuen Gasquellen für den Winter gar nicht so schwer. (Eric Frey, 23.7.2022)