Die Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen, in der er die Regierung zum Arbeiten aufforderte, wurde stark diskutiert. Wahrscheinlich bedeutender war aber der Passus, in dem VdB glasklar sezierte, was im Kopf des russischen Despoten Wladimir Putin vor sich geht: "Warum ist plötzlich alles unsicher, was über Jahrzehnte so sicher schien? Weil nicht so weit von hier in Moskau ein Diktator herrscht, der es nicht ertragen kann, dass Menschen hier in Europa in individueller Freiheit leben. Der vom verweichlichten, dekadenten Westen redet, der unsere Art zu leben zutiefst verachtet."

Van der Bellen sezierte glasklar, was im Kopf des russischen Despoten Wladimir Putin vor sich geht.
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Das ist ein geostrategischer, machtphilosophischer Ansatz, den wir so von keinem österreichischen Politiker (oder Politikerin) bisher gehört haben. Nichts von dem Gewäsch, dass Putin sich ja nur gegen das "Vorrücken der Nato" wehre, nichts von den "berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands", nichts von der Notwendigkeit, den Aggressor nicht durch Widerstand zu "demütigen". Schon gar nichts von einer Aufforderung vieler an die Ukraine, sich in ihr Schicksal zu ergeben – von ahnungslosen Intellektuellen in offenen Briefen bis zu beinharten Geschäftemachern in pseudorealistischen "Argumenten".

Putin führt Krieg zugleich gegen die Ukraine und den Westen. Er kann es nicht zulassen, dass die Ukraine "westlich" wird – halbwegs demokratisch, modernisiert, ein besseres Russland als Russland selbst. Diese Grundtatsache ist inzwischen klug analysiert, von russischen und internationalen Russlandkennern. Tatjana Stanowaja vom renommierten Carnegie-Thinktank schreibt unter dem Titel Putin denkt, er gewinnt, dass die politischen Verwerfungen in Europa durch Energieknappheit und Teuerung ein "anderes Europa" erzeugen sollen – russlandfreundlich, mit autoritären Führern wie er selbst. Eines, das die russischen offiziellen Forderungen von Dezember 2021 erfüllen wird: Rückzug der Nato aus Ost- und Ostmitteleuropa, letztlich Rückzug der USA vom Kontinent.

Putin kann es nicht ertragen, dass Menschen in Europa in individueller Freiheit leben.
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Putin will die Welt sicher für autoritäre Antidemokraten machen, und er hat dabei wichtige Verbündete: den chinesischen Diktator Xi Jinping, aber auch andere Regime wie den Iran, die Türkei, letztlich auch Ungarn, möglicherweise Serbien.

Wenn man das einmal begriffen hat, stellt sich die Frage, wie das alles enden kann oder soll. Die US-Historikerin Anne Applebaum konstatiert knallhart: Putin muss verlieren. Nicht nur, weil jede halbe "Friedenslösung" ihn dazu bringen würde, es in ein, zwei Jahren wieder zu versuchen, sondern auch, weil sich laut Applebaum nur dann für Russland die Chance auf eine Transformation zu einem halbwegs zivilisierten europäischen Staat ergeben würde. Das ist so atemberaubend, dass man es sich kaum vorstellen kann.

Aber die Alternative für Europa ist Vasallentum. Auch das hat Van der Bellen in unerhörter Klarheit ausgesprochen: "Diese Abhängigkeit (von Gas etc.) ist unerträglich! Aber es ist auch unerträglich, auch nur mit dem Gedanken zu spielen, sich zum unterwürfigen Verbündeten eines Diktators zu machen. Wir sind nicht Putins Vasallen."

So hart hat noch kein österreichisches Staatsoberhaupt über ein russisches oder überhaupt eines gesprochen. Was aber tun? Der Begriff, der hier naheliegt, ist "containment" – "Eindämmung". Das hat der US-Diplomat George Kennan 1947 als erfolgreiche Strategie gegenüber der Sowjetunion skizziert. Putin muss eingedämmt werden. Mit Waffenlieferungen an die Ukraine, mit Änderung der europäischen Energiepolitik. Das wird hart, aber die Alternative ist Vasallentum. (Hans Rauscher, 23.7.2022)