Wer keinen kleinen Garten hat, muss auch Gemüse und Ost kaufen – und die Preise von Lebensmitteln steigen Tag für Tag.

Foto: EPA/Erdem Sahin

Es ist immer dasselbe. Dem ungläubigen Blick auf den Kassenbon folgt Kopfschütteln. Seit gut einem Jahr hat sich in der Türkei eine Inflation von rund 80 Prozent festgesetzt. Unabhängige Experten gehen sogar von mehr als 120 Prozent aus. Vor allem Lebensmittelpreise klettern fast täglich. Die türkische Zentralbank hat den Kampf gegen die Inflation längst aufgegeben. Während die EZB nun den Leitzins erhöht hat, beließ die türkische Zentralbank ihre Leitzinsen bei 14 Prozent – wie seit Dezember 2021, als sie diese von 15 Prozent gesenkt hatte.

Das hat längst nichts mehr mit der Aufrechterhaltung von Preisstabilität zu tun, sondern entspricht den politischen Anweisungen von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der entgegen landläufiger ökonomischer Lehrmeinung hohe Zinsen für die Inflation verantwortlich macht. Weil seine Zentralbankchefs dieser Meinung nicht folgen wollten, entließ er drei Banker; der im März 2021 installierte Sahap Kavcioğlu tut nun nur noch, was der Chef ihm sagt. Genauso erging es widerspenstigen Finanzministern: Sie wurden reihenweise gefeuert. Seit vorigem November leitet nun Nureddin Nebati das Ministerium, ein absolut treuer Anhänger von Erdogans Zinspolitik.

Wert der Lira stürzt ab

Die türkische Lira wurde dadurch zu einer Schrottwährung, die immer mehr an Wert verliert. Bekam man 2021 im Sommer noch für neun Lira einen Euro, muss man jetzt schon 18 Lira für einen Euro zahlen.

Erdoğan hofft, mit niedrigen Zinsen die Konjunktur am Laufen zu halten und der Industrie zu einer Exportoffensive zu verhelfen. Tatsächlich steigen nach offiziellen Angaben die Exporte, doch diese Erfolge werden durch hohe Importkosten sofort wieder zunichte gemacht. Erdogan erklärt nun, dass die Inflation ja weltweit steige und kein spezifisches türkisches Problem sei.

Tatsächlich sieht es mittlerweile so aus, als hätte sich die türkische Bevölkerung mit der Inflation mehr oder weniger abgefunden. Es wird zwar ständig über die hohen Preise geklagt, doch ernsthafte Proteste wie 2021 gibt es nicht mehr.

Sparen in Euro und Dollar

Das hat mit dem Ukrainekrieg zu tun, der Erdoğan jetzt den Vorwand für die wirtschaftlichen Probleme liefert, aber auch damit, dass die Bevölkerung sich auf die veränderten Bedingungen eingestellt hat. Jeder, der etwas Geld hat, hat seine Ersparnisse längst auf Dollar- oder Eurokonten umgeschichtet. Alle Versuche der Regierung, die Leute mit finanziellen Anreizen oder Drohungen dazu zu bewegen, ihre Guthaben wieder in Lira umzutauschen sind gescheitert. Inzwischen werden türkische Unternehmen per Gesetz dazu gezwungen, einen Teil ihrer Dollarguthaben in Lira zu tauschen, wenn sie einen Kredit aufnehmen wollen.

Diejenigen, die keine Ersparnisse haben, die sie in Dollar oder Euro eintauschen könnten, müssen den Gürtel enger schnallen. Allerdings sorgt die Erdoğan-Regierung dafür, dass es kein Absturz ins Bodenlose wird. Renten und Mindestlöhne wurden heuer bereits zweimal deutlich erhöht und die Mieten gedeckelt. Sie dürfen jährlich nur um 25 Prozent angehoben werden.

Großfamilie fängt auf

Und wie immer in Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte umgesiedelt sind, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat. Obst und Gemüse kommt deshalb meistens aus dem eigenen Garten. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 25.7.2022)