Gemeinschaft ist ein wichtiges Thema in den Büchern von Dominik Barta. Sie macht die Welt nicht heil, aber besser.

Foto: Leonhard Hilzensauer/Zsolnay

Die Verlagsprogramme diversifizieren sich: Geschichten von und über People of Color und Figuren aus sozial abgehängten Gesellschaftsgruppen haben in den letzten Jahren mehr Raum gewonnen. Explizit queere Hauptfiguren sind in den Erscheinungen breitenwirksamer deutschsprachiger Publikumsverlage trotzdem noch seltene Funde. So eine ist Kurt: Anfang 30, Wiener, Single, Abendschullehrer und verklemmt schwul. Das sagt er selbst nicht gern, aber sein bester Freund Frederik, in den er seit der Volksschule verliebt ist, mit dem er sich aber inzwischen keinen Sex mehr vorstellen kann, sagt es ihm.

Für seine Eltern ist das alles kein Problem. Aber manchmal hadert Kurt damit, nicht auf Frauen zu stehen. Etwa wenn die Sorge vor sexuell übertragbaren Krankheiten sein "Verlangen" bremst. Oder wenn hin und wieder in Clubs, Gebüschen oder WG-Zimmern etwas mit einem Mann läuft – er aber nicht zum Frühstück bleiben darf. Seit zwei Jahren hatte Kurt keinen Sex mehr, und Dating-Apps meidet er. Bilder vom an Aids erkrankten Freddie Mercury sind schuld, die hätten sich ihm eingeprägt. Obwohl er an einem schwulen Hotspot wohnt, war er nie in den Bars seiner Straße.

Hellhörig

So weit die Lage, die sich bei der Lektüre nach und nach ergibt. Dominik Barta (39, schwul, Lehrer, Oberösterreicher in Wien) lässt seinen nach Vom Land (2020) zweiten Roman Tür an Tür nämlich sehr viel weniger festgelegt beginnen: Gerade in den sechsten Bezirk gezogen, setzt Kurt zu, dass er in dem hellhörigen Genossenschaftsbau jede Regung der Nachbarn miterlebt. Noch mehr stört ihn aber, dass er wohl auch selbst von ihnen gehört wird.

Sie werden auf den 200 Seiten wichtig für Kurt sowie für die Geschichte. Denn an ihnen hängt Barta eine Vielzahl an Themen abseits vom Schwulsein auf. Sexualität wird nur zu einem Motiv von vielen.

Geflüchtete, MeToo, Klasse

Beim Unterrichten in der Abendschule begegnet Kurt etwa diversen Migrationsbiografien: Tür an Tür spielt großteils 2014, also vor dem, was als "Welle" gerade noch ins Buch schwappt. Rund um den distinguierten älteren Herrn Paul in der Wohnung nebenan und die Verhaltensbiologin ein paar Stockwerke drunter entspinnt sich eine auf den ersten Blick klare MeToo-Geschichte, die allmählich Rollen auf den Kopf stellt und in einem Problemabriss über Begehren im Alter mündet.

Das klingt ganz so, als hätte der Roman schwer zu tragen. Er meistert es aber mit Leichtigkeit! Und es kommt noch mehr dazu. Kurts Eltern repräsentieren eine Arbeiterklasse, denen der Eintritt in die Pension erstmals im Leben ein beruhigendes Gefühl von Sicherheit angedeihen lässt. Ein junger Minister rät seinen Altersgenossen zeitgleich zum Aufbau von Eigentum als Altersabsicherung – ja, Tür an Tür ist zutiefst in Österreich und Wien verankert. Yasmina, Frederiks mit allen westlichen Freiheiten in Döbling aufgewachsene, doch libanesischstämmige Freundin aus wohlhabendem Elternhaus entdeckt im Zug des Kriegs in Syrien erstmals ihre arabische und aktivistische Seite – und angesichts von Frederiks Kinderwunsch auch eine feministische.

Woke Diskurse

Geschickt lässt Barta die vielen Fäden aufeinander zulaufen. Das gelingt, weil die Charaktere ihr jeweiliges Spezifikum glaubwürdig vertreten. Mit ihrem Einsatz wechseln die Themen sich wohlproportioniert ab. Ist das nicht zu gut gemeint? Mag sein. Aber nichts wirkt aufgesetzt. Barta agiert in Kenntnis woker Diskurse und Argumente, ist zugleich zurückgelehnt, abwägend. Queeren Identitätsdiskussionsrunden, denen Kurt sich an der Uni angeschlossen hatte, zwinkert er zu.

So sicher wie die Themen handhabt der Autor die Sprache: sanft und liebevoll, bei Witzen im Ton manchmal etwas verschämt. Es gibt nichts gegen Tür an Tür einzuwenden – außer vielleicht, dass all das etwas zu glatt und gefügt abläuft. Man hätte Kurt mehr Wildheit gegönnt: für mehr emanzipatorische Power. (Michael Wurmitzer, 30.7.2022)