Kapitalismuskritik als Kunst fürs Volk: Das Kollektiv Total Refusal präsentierte in Locarno den Kurzfilm "Hardly Working".

Sarah Fichtinger

So frei heraus bekennen sich nicht viele zum Marxismus. Zwei der sechs Mitglieder von Total Refusal, haben sich anstelle des gefühlsbetonten Klassikers "Love" und "Hate", "Karl" und "Marx" auf die Fingerknöchel tätowiert. Auch in den Arbeiten der Gruppe, die Computerspiele als Rohmaterial nutzen, geht es nicht etwa um die derzeit so beliebte Moralisierung individueller Handlungen und Haltungen, sondern um System- und Kapitalismuskritik.

Doch was hat das Kollektiv – das sich seit 2019 mit drei Kurzfilmen und mehreren Online-Performances internationales Renommee erarbeitet hat – zu Marx geführt? "Der erste Ansatz war", sagen sie im STANDARD-Gespräch beim Filmfestival Locarno, "in die kriegerischen Computerspiele pazifistisch zu intervenieren, um das angelegte Kriegsnarrativ zu brechen und friedliche Wege zu finden, Spiele zu spielen – antikapitalistisch war unsere Haltung jedoch von Beginn an."

Hassliebe zum Medium

Computerspiele seien "milliardenschwere kapitalistische Investments", da war der Schritt in die vertiefte Auseinandersetzung mit marxistischen Theorien die logische Konsequenz. Jedes neue Projekt des Kollektivs, das aus Susanna Flock, Robin Klengel, Leonhard Müllner, Michael Stumpf, Jona Kleinlein und Adrian Haim besteht, zielt anhand der Analyse von Spielen und der daran geknüpften Theoriearbeit auch darauf ab, die eigene Weltsicht weiterzuentwickeln.

Warum aber Computerspiele? "Zunächst sind und waren wir alle Spielende und haben damit eine Hassliebe zum Medium. Wir beschäftigen uns damit aber auch, weil über populäre Medien unsere Werte und Ideologien sichtbar werden. Frei nach McLuhan denken wir, dass man, um die Gesellschaft verstehen zu können, Massenmedien konsumieren muss."

Obwohl ihrem ersten Kurzfilm Operation Jane Walk, eine Architektur- und Urbanismusführung durch das New York des Online-Shooter-Games Tom Clancy’s The Division, der Performancecharakter noch deutlich anzusehen war, gewann er 2019 überraschend bei Vienna Shorts. Der zweite Film, How to Disappear, war 2020 mit einer Premiere bei Berlinale Shorts, zahlreichen Preisen und über achtzig Festivalteilnahmen ein globaler Erfolg. Das im Zweiten Weltkrieg angesiedelte Kriegsspiel Battlefield V gestaltet das Kollektiv hier zu einer Hymne auf das Desertieren um, das in gängigen Geschichtserzählungen sträflich vernachlässigt wird.

Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck

Am Kurzfilmwettbewerb beim Filmfestival in Locarno stellen Total Refusal nun Hardly Working vor. Mit anthropologischem Blick widmen sie sich den Arbeitswelten von NPCs (nichtspielbaren Charakteren) im Western-Shooter Red Dead Redemption II: "Grundsätzlich spielt man ein Spiel durch, ohne auf das Hintergrundgeschehen, die Menschen und Dinge, die diese hyperrealistische Welt bevölkern, zu achten. Bei Red Dead Redemption II hat uns interessiert, wie Arbeit dargestellt wird und welche Werte, Widersprüche und Parallelen sich zur kapitalistischen Arbeitswelt ablesen lassen – und das gerade vor dem Hintergrund des meritokratischen Milieus, aus dem wir kommen, in dem Arbeit als Performance angesehen wird."

Auch die NPCs performen ihre Arbeiten nur, um die hyperrealistische Welt des Spiels aufrechtzuerhalten, doch die Illusion hat nur im Vorübergehen Bestand. Nicht spielbare Figuren sind so programmiert, dass sie aufscheinen und verschwinden, sobald der oder die Spielende weiterspielt. Beginnt man aber die Figuren über Tage zu beobachten, schleichen sich Sonderbarkeiten ein, "denn je länger du die Extras zwingst, die Algorithmen, die nur für die oberflächliche Beobachtung gedacht sind, abzuspulen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Fehler entstehen."

Fehler im System

Wenn dann einer Straßenkehrerin der Besen entschwindet, der Dockarbeiter in den Himmel emporfährt und der Stallknecht untätig ins Leere starrt, ist das ein Bruch mit den reibungslos programmierten Arbeitsabläufen, die nur um sich selbst kreisen, ohne jemals etwas zu verändern. Am Ende des Films scheut sich Hardly Working auch nicht vor dem klaren Aufruf zur kollektiven Arbeitsverweigerung: Diese Deutlichkeit war Total Refusal wichtig, um dem "Konsumtrend Kapitalismuskritik, der mittlerweile schon in Marvel-Filme zu finden ist", entgegenzutreten.

Total Refusal sind sich bewusst, dass "sich der Kapitalismus immer auch die Kritik eingemeindet" – deshalb auch das halbironische "pseudo-" vor "marxistisch" in der Selbstbezeichnung. Zwar könnten sie als Teil des kapitalistischen Systems nur von innen Kritik üben, das sei aber kein Grund für Haltungslosigkeit oder Humorlosigkeit.

Mit ihren nächsten Projekten, die die Verbindungen von Demokratie und Kapitalismus (Money is a from of Speech) sowie die westliche Sicht auf den Zerfall der Sowjetunion (Desaster Tourism) in den Blick nehmen, möchten sie außerdem neue Kanäle erobern. Die Bühne etwa, aber auch die Gamingportale der Spielenden, denn, so fügen sie hinzu, "als echte PseudomarxistInnen wollen wir natürlich Kunst für das Volk machen". (Valerie Dirk, 11.8.2022)