Frau, Jüdin, Ostdeutsche: die Autorin Barbara Honigmann.

Foto: Peter Hassiepen

Wer Barbara Honigmann als unerschrockene Autorin kennt, wird über den Titel dieses Buches nicht allzu verwundert sein. Dabei ist Unverschämt jüdisch eigentlich einer fragwürdigen Übersetzung geschuldet. 1963 erschienen auf Deutsch Sartres Betrachtungen zur Judenfrage, wo der Begriff "juif inauthentique" sehr frei mit "der verschämte Jude" übertragen wurde.

Honigmann war vierzehn, als sie das Buch in die Hand bekam, es wurde für sie existenzprägend. Die Übersetzung von wörtlich "unauthentisch" als "verschämt" erschien ihr durchaus treffend, wird darin doch der "‚Makel der Geburt‘ und die Scham darüber" angesprochen. Schon ist man im "Zentrum des Problems".

Nach außen hin ist Unverschämt jüdisch ein Sammelband von Reden und Vorträgen der letzten 20 Jahre, aber in Wahrheit viel mehr, sind es doch Subtexte zur eigenen Familienbiografie, die eine zusammenhängende Identitätsgeschichte ergeben. Einmal mehr hat sich die Autorin als Meisterin des autobiografischen Erzählens bewiesen.

Familiengeschichte

Das hat natürlich mit Offenheit zu tun – weder müsse jüdische Identität noch der Umgang mit ihr verschämt sein, der Gegenbegriff erklärt also, warum Honigmann die eigene Familiengeschichte immer offensiv erzählt hat.

In ihrer Rede zum Max-Frisch-Preis 2011 verknüpft sie Frischs Berlin-Reise 1947 mit der eigenen, man muss sagen, Vorgeschichte. Denn zur selben Zeit waren ihre Eltern aus dem Exil in London nach Deutschland zurückgekehrt, nach Ostberlin, in die russische Zone. Jüdische Heimkehrer, Kommunisten.

In dieses Milieu wurde Barbara Honigmann 1949 geboren, aufgewachsen ist sie aber alles andere als linientreu. In der Oberschule trug sie Jeans statt Röckchen und schwarze, "existenzialistische" Rollkragenpullover, las Sartre und trug ungeniert "West-Bücher" unterm Arm. Ihre Freundin Wera gab sich noch mutiger: Als sich alle Schüler zu Beginn des Schuljahres mit einem Lied präsentieren sollten, sang sie stolz Die Gedanken sind frei und bekundete anschließend: "Meine Eltern sind Juden." In der Klasse: Schweigen.

Gewagtes Geständnis

"Es war ein gewagtes Geständnis", so Honigmann. "Aber es war wichtig, um dem verschämten Judentum zu entkommen. Es blieb wichtig. Es ist noch heute wichtig." In der DDR rechtfertigte die Herkunft die Unangepasstheit und Aufmüpfigkeit der Jugendlichen, und es mochte so etwas wie einen Freibrief bedeuten, nämlich als Emigrantenkind "nicht in die historische deutsche Schuld verstrickt zu sein".

So habe sich auch Wolf Biermann, weil sein Vater von den Nazis ermordet worden war, "seine Frechheiten gegen das Regime" herausnehmen können. Aber was bedeutete es noch, und was bedeutet es insgesamt? Das jüdische Bewusstsein habe damals das Leben zwar nicht leichter gemacht, "aber es war wenigstens eine Klarheit. Eine Würde und Bürde zugleich."

Der Ideologie misstrauen

Damit ist das wohl wichtigste Wort gesagt: Klarheit, und die muss, um so gültig wie möglich sein zu können, so unverschämt wie nur möglich sein. Ohne Klarheit keine Würde. 1984 flüchtete Honigmann aus der DDR, es war zugleich eine Flucht ins Judentum zurück, das ihr bisher eigentlich fremd war.

Heute lebt sie mit ihrer Familie in Straßburg. Sie gehört dort einer aufgeschlossenen jüdischen Gemeinde an. "Am Judentum", bekennt Honigmann, "zieht mich seine helle, die Tagesseite, an und nicht die mystische, kabbalistische." Gemeint ist jenes moderne Judentum, das sich in Deutschland mit der Aufklärung entwickelt hatte und deren Vertreter die deutsche Kultur bereichert haben, ihre Namen blitzten in den Beiträgen dieses Buches auf: Heine, Kafka, Wassermann, Döblin, Ricarda Huch ...

Konfliktstoff

Barbara Honigmann, "Unverschämt jüdisch". 20,60 Euro / 159 Seiten. Carl-Hanser-Verlag, München 2021
Cover: Hanser Verlag

An ihnen kommt man nicht vorbei, wenn man das deutsch-jüdische Verhältnis zu ergründen versucht, ein Konfliktstoff, der in Honigmanns Büchern nicht bloß durchschimmert: von dem sie erzählt. Und auch in ihren Reden widmet sie sich der Identität als deutsche Jüdin direkt und unaufgeregt, als wäre es ganz selbstverständlich, davon zu sprechen: unverschämt nicht im provokanten Sinn, sondern der Klarheit und Wahrhaftigkeit verpflichtet. Die mache einen, so Max Frisch, immer einsam, aber sie sei das Einzige, was man der Welt entgegenzustellen hat. Denn sonst, so Honigmann, würden verschämte Juden auch "verschämte Deutsche" bleiben.

Herkunft und Identität sind für die Autorin auch untrennbar mit ihrem Schreiben verbunden, nämlich die Konstellation "Frau, Jüdin, Deutsche und noch dazu aus dem Osten". Und erst recht dürfe sich der "engagierte Schriftsteller" nicht schämen, so wenig, wie er sich über die Wirkungslosigkeit seines Engagements Illusionen machen dürfe. Und noch etwas: Er dürfe nicht ideologisch sein, sondern müsse der Ideologie misstrauen und die allzu schnellen Antworten hinterfragen. Vielmehr habe die Literatur Beunruhigung zu leisten.

Genau das wollen uns diese Texte vermitteln. Was Schreiben und Jüdischsein miteinander verbindet, kann man nicht schöner erklären. (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 13.8.2022)