Träger Jäger: Der Grönlandhai kann vermutlich an die 500 Jahre alt werden – und geht es dementsprechend ruhig an.
Foto: Reuters/Julius Nielsen

Der Grönlandhai (Somniosus microcephalus) kann auf einen gewissen Imagewechsel zurückblicken. Lange galt er vor allem als (durchaus gewöhnungsbedürftige) Delikatesse: In Island gilt das eigentlich ungenießbare Fleisch des Tiers aus der Familie der Schlafhaie als traditionelles Gericht – nachdem es knapp ein halbes Jahr eingegraben und abgehangen worden ist. Nur durch die Fermentierung wird das mit giftigen Stoffwechselprodukten angereicherte Fleisch überhaupt essbar. Was den Geschmack angeht, scheiden sich die Geister.

Im vergangenen Jahrzehnt rückten die bis zu acht Meter langen Grönlandhaie, die vorwiegend in den Tiefen der arktischen Regionen des Nordatlantiks leben, aber zunehmend aus dem kulinarischen Fokus ins wissenschaftliche Interesse. Dass die auch Eishaie genannten Tiere ein sehr hohes Alter erreichen können, wurde schon lange vermutet, genaue Altersbestimmungen waren aber schwierig: Nur selten werden lebende Tiere in ihrem natürlichen Habitat beobachtet, die nicht gerade in Fischernetzen gelandet sind. 2016 gelang dann einem dänischen Forschungsteam erstmals auf Umwegen eine genauere Altersabschätzung von insgesamt 28 Grönlandhaien.

Methusalem der Meere

Anhand von Proteinen in den Augenlinsen der Tiere, die sich schon im Mutterleib bilden, kamen die Wissenschafterinnen und Wissenschafter zu einem verblüffenden Ergebnis: Die untersuchten Eishaie waren im Schnitt 272 Jahre alt. Das größte, mehr als fünf Meter lange Exemplar brachte es auf 390 Jahre. Inzwischen wird angenommen, dass Grönlandhaie sogar fast 500 Jahren leben können – länger als jedes andere Wirbeltier der Erde.

Kein Wunder, dass sich Forscherinnen und Mediziner für die Grönlandhaie interessieren. Untersuchungen des Gehirns eines etwa 250 Jahre alten Exemplars brachten etwa keinerlei Hinweise auf neurodegenerative Schäden, das Alter war dem Haiorgan schlicht nicht anzusehen, berichtete ein deutsch-isländisches Forscherteam 2020. Die physiologischen Geheimnisse des marinen Methusalems sind noch lange nicht gelüftet. Klar ist aber, dass fast alles bei diesen Tieren extrem langsam abläuft, vom Stoffwechsel hin bis zu den Bewegungen im eisigen Ozean.

Karibische Überraschung

Nun sorgt der enigmatische Hai für eine neue Überraschung: Er wurde erstmals fernab seines angestammten Lebensraums beobachtet – in der westlichen Karibik vor der Küste von Belize nahe dem zweitgrößten Korallenriff der Welt. "Zuerst war ich mir sicher, dass es sich um etwas anderes handelte, etwa um einen Sechskiemerhai, der in den tiefen Gewässern vor Korallenriffen lebt", sagte Devanshi Kasana von der Florida International University in Miami. Die Forscherin entdeckte das Tier auf der Suche nach Tigerhaien gemeinsam mit belizischen Fischern. Schnell wurde klar, dass es sich um einen ganz anderen Hai handeln musste, der noch nie zuvor in der Region beobachtet worden war.

Diese Aufnahme entstand bei der unerwarteten Begegnung am Belize Barrier Reef.
Foto: Devanshi Kasana

Kasana fotografiert das Tier und alarmierte einen Kollegen, der mit Verblüffung feststellte: Dem Aussehen nach dürfte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Grönlandhai handeln. Gemeinsam mit weiteren Kolleginnen und Kollegen veröffentlichte Kasana den Fund kürzlich im Fachblatt "Marine Biology". Ein hundertprozentiger Nachweis der Spezies konnte zwar nicht erbracht werden, da keine DNA-Proben entnommen wurden, ehe sich das Tier wieder in die Tiefe verabschiedete. Die Fachleute sind sich aber ziemlich sicher, dass Kasana es tatsächlich mit einem Eishai in karibischen Gewässern zu tun hatte. Das wirft Fragen über das Verbreitungsgebiet der schwimmenden Altersrekordhalter auf.

Die Forschenden halten es für möglich, dass sich die Grönlandhaie generell nicht auf die kalten Gewässer des Nordatlantiks beschränken, wie man lange dachte. Womöglich sind sie in großen Tiefen viel weiter verbreitet. Das vor Belize gesichtete Exemplar befand sich bei einem Atoll des Belize Barrier Reef, dessen Ränder steil abfallen – Grönlandhaie können bis zu zwei Kilometer tief tauchen. Dort dürfte es durchaus Wassertemperaturen nach Eishai-Geschmack geben.

Geschlechtsreif mit 150 Jahren

"Wir wissen kaum etwas über die Verbreitung dieser Haie abseits der Polarregion", sagte Brynn Devine, Expertin für arktische Fischerei bei der Naturschutzorganisation Ocean North, die selbst nicht an der aktuellen Studie beteiligt war, zu "National Geographic". "Durch Beobachtungen wie diese können wir mehr über die Spezies lernen, doch prinzipiell gibt es noch riesige Wissenslücken in Bezug auf Grönlandhaie."

Selbst die Fortpflanzung der Eishaie gibt nach wie vor Rätsel auf. Wo sie ihre Jungen zur Welt bringen und wie viel Nachwuchs es gibt, ist unklar, neugeborene Grönlandhaie wurden bisher kaum gesichtet. Fest steht, auch die Reproduktion der trägen Haie verläuft gemächlich: Geschlechtsreif werden die Tiere mit rund 150 Jahren. Die Trächtigkeit dauert Schätzungen zufolge acht bis 18 Jahre. (David Rennert, 14.8.2022)