Dem Bade- und Gruppenbetäubungsspaß an der Traisen dürfte der Wetterprognose nach auch diesmal nichts im Wege stehen.

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ANFÄNGE

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne? Nun ja. Wer bei Alkoholdunst, Schweiß, Gatsch und Dixi-Klos feuchte Augen kriegt, wird es bereits vermisst haben. Das Frequency-Festival (FQ) kann nach zweimaliger Absage wegen eh schon wissen endlich wieder stattfinden. Bis zu 150.000 ausgehungerte Feierwütige werden von heute, Donnerstag, bis Samstag das St. Pöltener VAZ überfallen. Anfänge hatte das FQ in seiner Geschichte einige. Unter langgedienten Frequencynauten wird bis heute debattiert, wo es am besten war: 2001 bei der überschaubaren Premiere mit 4.000 Menschen in der Wiener Arena? Na ja, wer war überhaupt dabei? Romantisch war es auf den Wiesen rund um den Salzburgring, wo es von 2002 bis 2008 stattfand und auf 100.000 Besuchende anwuchs. Nach einem Brückeneinsturz mit Verletzten und der Salzburger Eigenheit, dass das Wetter blitzartig von Hochsommer in Winter mit Schnürlregen und Schneetreiben (!) umschlagen kann, überdrüssig geworden, verlegte Österreichs größter Musikveranstalter Ewald Tatar (u. a. Nova Rock) das "Alternative-Festival", das heute längst alle Genres bedient, nach St. Pölten: bessere Infrastruktur, stabileres Wetter, größeres Einzugsgebiet. Win, win, win, der Rubel rollt!

Auf zwei Großbühnen werden am Frequency-Festival in St. Pölten nach zwei Jahren pandemiebedingter Pause wieder bis zu 150.000 Menschen erwartet.
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BILDERBUCH

Die oberösterreichischen Funk-Neuerfinder rund um Sänger Maurice Ernst sind dieses Jahr zum wiederholten Mal Headliner. Längst vergessen die Zeit, als Ernst 2015 zerknirscht festhielt, dass die von Konzernen dominierte "Festival-Mafia" (Zitat) zu wenige Acts aus Österreich buchen würde. Heute, scheint es, schlecken sich die Veranstalter alle Finger ab: Mit Bilderbuch hat man die spannendste Band im deutschen Sprachraum bei der Hand – kein schlechtes Asset in Zeiten, da man bei internationalen Bookings noch immer die Pandemienachwirkungen zu spüren bekommt.

Dieses Jahr zum wiederholten Mal Headliner: Bilderbuch rund um Sänger Maurice Ernst.
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CAMPING

Wer es auf einem Großfestival wie dem FQ irgendwann zwischen drei Uhr nachts und sechs Uhr morgens, wenn der erste Hahn grölend sein Dosenbier köpft, mit Schlafen versuchen will, hat dafür viele Möglichkeiten: Caravan-Camping, Green Camping, klassisch wassernah entlang der Traisen (kleiner Tipp: das Wasser unterhalb des Geländes eher meiden!) oder mit mehr Komfort als Glamping-Variante. Am FQ wird dabei normalerweise gehalten, was versprochen wurde. Dass das mit dem "Glamour" auch danebengehen kann, zeigte 2017 das glorios gescheiterte Fyre-Festival auf den Bahamas. Die Netflix-Doku Fyre über das Rich-Kid-Event, bei dem es statt Traumunterkunft und Gängemenü dann Baustellencontainer und Käsesandwich setzte, sei als warnendes Beispiel wärmstens empfohlen.

Das Fyre-Festival steht paradigmatisch für die große Fallhöhe, die Erwartung und Realität auf Festivals kennzeichnen kann.
Netflix

FASCHING

Sage noch einer, der Fasching liege im Sterben! Die karnevaleske Ausschweifung gehört zur Frequency-Folklore unbedingt dazu. Das ganze Jahr über zerbricht sich manch junger Mensch den Kopf darüber, welche Kostümierung – Power-Ranger, Wonder-Woman, Gorilla oder doch lieber Adamskluft? Sexy, grauslich oder supersexy? – sich diesmal anböte. Generell muss man auch sagen, dass jedes halbwegs anständige Zeltlager heute über seine eigene Soundanlage verfügt und sich die besten Partys eh alle selber machen. Der Veranstalter fungiert hier eigentlich nur noch als Vermittlungsagentur.

Für viele gilt am Frequency eines: Kostümierung muss sein. Hier: die Power Rangers.
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GENDER

Das Geschlechterverhältnis bei den gebuchten Musikacts stellt sich traditionell als gelinde gesagt unausgeglichen dar: Es gab Jahre, da lag die prozentuale Beteiligung von Künstlerinnen im einstelligen Bereich, diesmal sind es immerhin fünfzehn Prozent. Unter den größeren Hauptacts findet sich mit der Britin Anne-Marie (radiobekannt mit Friends) zwar nur eine Frau, im Kleingedruckten wird es dann aber besser: Eine gute, rotzrockpunkige Show ist von den Nova Twins zu erwarten, die Wienerin Lisa Pac hat mit Bedroom eine Single von internationalem Format im Köcher, und Baby Queen aus Südafrika führt das Girlpunk-Revival in der Tradition Avril Lavignes fort.

Musikerinnen wie Baby Queen brachten in den letzten Jahren den Poppunk Marke Avril Lavigne zurück ins Geschäft.
BabyQueenVEVO

LINE-UP

Generell konnte man sich auf dieses Festival-Line-up bereits seit drei Jahren vorbereiten. Zwar sind große Weltacts wie Die Antwoord, die 2020 gebucht gewesen wären, nicht mehr dabei, ansonsten steht das Line-up von damals noch weitgehend: Neben Bilderbuch sind das der Ed-Sheeran-Wiedergänger Lewis Capaldi, die deutsche Kuschelrockband AnnenMeyKantereit, R&B-Sänger Jason Derulo, die Hip-Hop-Veteranen Cypress Hill sowie – directly out of Wien-Rudolfscrime – Dancehall-Gangster-Rapper RAF Camora und der Donaustädter Kunstrapper Yung Hurn. Letztgenannte Lokalmatadore werden immer wieder wegen sexistischer Texte kritisiert. Dass bei ihren Konzerten aber unter Garantie wieder die Hölle los sein wird, ist vielleicht ein Indiz dafür, dass es mit der vielzitierten politisch korrekten Generation "woke", zumindest am Frequency, nicht so weit her ist.

Yung Hurn ist nur einer der vielen Rap-Acts, die seit Jahren das Frequency dominieren.
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ORGANISATION

Chaotische Szenen wie zuletzt nach schweren Regenfällen bei der Anreise zum Nova Rock in die burgenländische Pampa sind am Frequency nicht zu erwarten. Seit dem Umzug nach St. Pölten auf ein vielerprobtes, durchdachtes Großveranstaltungsgelände mit direkter Autobahnanbindung, viel Beton und Asphalt, läuft die Organisation normalerweise wie geschmiert. Neu ist eine vermehrt im Veranstaltungsbereich eingeführte Ticket-Personalisierung, bezahlt wird längst wie in der Therme via Cashless-Bändchen.

TESTOSTERON

Das sich durch Verhaltensoriginalität bemerkbar machende männliche Sexualhormon sowie alle mitgemeinten körpereigenen und externen Drogen sind auf so einem Festival freilich nicht zu unterschätzen. Liebsein sei daher großgeschrieben. Nachdem der am FQ mehrheitlich vertretenen Generation Youtube natürlich auch auf Netflix nichts entgeht, kann aber davon ausgegangen werden, dass eine dort jüngst veröffentlichte großartige Doku ohnehin einen Eindruck davon hinterlassen hat, wie man so einen Großfestivalbesuch besser nicht anlegt.

Woodstock 1999 verlief nicht ganz so, wie sich die Veranstalter es erwartet hatten. OMG!
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WOODSTOCK ’99

Die hintergründige Doku schildert minutiös die desaströse Wiederauflage des Woodstock-Festivals im Juli 1999 auf einem aufgelassenen Militärgelände im US-Bundesstaat New York, dem das VAZ St. Pölten gar nicht unähnlich ist. Abgesehen davon, dass die Hitze und die völlig überteuerte und unzureichende Versorgung der Festivalgänger verheerend wirkte, zeigten sich auch soziokulturelle Verschiebungen: Anstatt der von den Veranstaltern erwarteten "Love and Peace"-Attitüde der Hippieära bekam man es mit dem Hedonismus, der Wohlstandsverwahrlosung und Wut der Generation X oder der, wie manche meinten, Generation American Pie zu tun. Es kam zu Vandalismus, Plünderungen und sexuellen Übergriffen, am Ende ging das Festival in Flammen auf. Also liebe Generation whatever: Ersparen wir uns das lieber! (Stefan Weiss, 18.8.2022)