Ich lese selbst viel und habe mit meinem Partner eine schöne Tradition des Vorlesens entwickelt, er liest mir vor, ich höre zu. Vor vielen Jahren haben wir uns das angewöhnt, dass wir sehr früh aufstehen, um mindestens eine Dreiviertelstunde zu lesen, und abends nie ohne Lektüre den Tag beschließen.

Veronica Kaup-Hasler (54) ist Wiener Stadträtin für Kultur und Wissenschaft.
Foto: Manfred Rebhandl

Zwei Wochen nach Beginn von Putins Krieg gegen die Ukraine haben wir mit Tolstois Krieg und Frieden begonnen, einem der wichtigsten literarischen Werke russischer Sprache, das die letzten Kriegszüge Napoleons zum Inhalt hat. Ein unglaubliches Werk mit über 2000 Seiten und eine so kluge Reflexion darüber, was Krieg mit Menschen macht.

Er beschreibt darin diese Sinnlosigkeit des Krieges, die Dummheit der Kriegstreibenden, die immer die kleinen Leute zum Opfer macht, die Willkür, wegen der Hunderttausende ihr Leben lassen müssen, aber auch die Taktiken der Kriegsführung, er hat ja selbst am Krieg teilgenommen und kannte sich mit den militärischen Verhältnissen gut aus.

Irres Nähegefühl

Es ist ein essayistischer Roman auch über eine Zeit in Russland, als das Französische, die Sprache des Feindes also, in den Salons und Theatern von St. Petersburg das Nobelste überhaupt war, und darüber, wie sich Gesellschaften verändern und welche Krisen das auslöst. Großartig übersetzt von Barbara Conrad, die einem ein irres Nähegefühl zu diesen Menschen vermittelt – die Sorgen, die Nöte, die Ängste der Menschen und die Verwerfungen zwischen ihnen, das alles fühlt sich leider sehr heutig an.

Wir haben noch 300 Seiten vor uns, danach werden wir vielleicht einen japanischen Krimi lesen, in Krimifragen lassen wir uns ja seit vielen Jahren von Elfriede Jelinek beraten, die eine begeisterte Krimileserin ist und uns immer wieder wunderbare Tipps gibt. Oder
wir machen weiter mit John le Carrés Smiley-Romanen.

Aber egal ob Krimi, Spionagethriller oder Weltliteratur – ich brauche diese morgendliche und abendliche Reinigung, diese "Abenteuer und Reisen im Kopf", die einen wegbringen von dem ausschließlich auf Information ausgerichteten Alltag. (Manfred Rebhandl, 20.8.2022)